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Eine Nacht in Bari

Eine Nacht in Bari

Titel: Eine Nacht in Bari Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gianrico Carofiglio
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werden, musste ich zuallererst Dialekt sprechen lernen, wie wenn man eine Fremdsprache erlernt.
    Um akzeptiert zu werden, musste ich vor allem beweisen, dass ich mitmachen konnte, und zwar nach ihren Regeln und nicht nach meinen. Denn wir befanden uns in ihrem Teil der Stadt und nicht in meinem. Das zu erreichen, war weder eine schnelle noch eine einfache Angelegenheit. Es gab einen genauen Zeitpunkt, zu dem diese Initiation beendet war.
    Ich war seit zwei Jahren in dem Sportverein und hatte
bereits den braunen Gürtel; ich nahm mit den anderen an Wettkämpfen teil, die ich auch manchmal gewann, aber ich wurde immer noch in gewisser Weise als Fremdkörper empfunden. Eines Abends trainierte ich am Punching-Ball, als ein Junge meines Alters, ebenfalls ein brauner Gürtel, zu mir kam und sagte, ich solle ihm Platz machen, und zwar schnell, weil er jetzt trainieren müsse. Er war groß, stark und böse, und er war gekommen, um einem Muttersöhnchen wie mir seine Regeln zu diktieren.
    Ich sah ihn einen Moment lang an, und obwohl ich spürte, wie mir die Knie zitterten, sagte ich mit ganz ruhiger Stimme, dass er warten müsse, bis er an der Reihe sei. Wenn er es eilig habe, könne er sich zum Teufel scheren.
    Nach einer kurzen ungläubigen Pause sagte er, wir sollten die Sache privat erledigen. Ich nickte nur und dachte, während wir in den Umkleideraum gingen, dass ich bloß eine Chance hatte. Ich musste ihn überraschen und ihm dabei sehr weh tun.
    Er ging voraus und drehte mir dabei den Rücken zu; als er sich langsam und höhnisch zu mir umdrehte, landeten zwei Faustschläge in seinem Gesicht. Ich schlug so fest zu, wie ich nur konnte, und tat ihm sicherlich sehr weh. Er ging nicht zu Boden, weil er einen Nacken wie ein Büffel hatte, aber ich hatte mir den nötigen Vorsprung gesichert. Ich schlug noch einmal zu – ein Hieb aufs Ohr und ein paar weitere Schläge -, während er versuchte, sich zu wehren. Aber es war zu spät, und seine Schläge schmerzten nicht mehr. Als ich an dem Abend nach Hause ging, wusste ich, dass mich von nun an keiner mehr wie ein Muttersöhnchen betrachtet hätte. Ich
war so stolz auf mich wie kaum ein anderes Mal in meinem Leben.
    Viele Jahre später sollte ich diesen Typen wiedersehen. Er war fett geworden und hatte eine Glatze, sah zehn Jahre älter aus, als er wirklich war und lief durch die Gänge des Gerichtsgebäudes, in Handschellen und von zwei Wachleuten begleitet. Wir begegneten uns, unsere Blicke trafen sich ein paar Momente lang, und dann sahen wir beide gleichzeitig weg und gingen in entgegengesetzte Richtungen weiter.

NEUN
    Wir ließen das Meer hinter uns und fuhren wieder Richtung Stadt.
    Giampiero sprach jetzt viel weniger. Paolo und ich sagten überhaupt nichts. Im Radio erklärte Alan Sorrenti uns, dass wir alle »figli delle stelle« wären, Kinder der Sterne, und dass wir nie stehen bleiben würden, aus keinem Grund der Welt.
    Aber sicher doch.
    Ich verfolgte weiter die Karte auf dem Bildschirm des Navi: Lungomare Starita, Piazzale Triggiani (wer das bloß war?), Corso Vittorio Veneto und dann kopfüber ins Gewirr des Libertà-Viertels. Via Trevisani, Via Napoli, Via Pizzoli, Piazza Garibaldi, Via Manzoni, Corso Italia und schließlich Via Sagarriga Visconti. Ziel: das Jolly-Kino und unsere Vergangenheit, die es nicht mehr gab. Falls es sie je gegeben hatte.
    Gedanken flogen mir durch den Kopf wie die Bäume, die man von einem Zug aus vorbeirasen sieht.
    Mir kam ein Satz in den Sinn, den ich irgendwo gelesen hatte: Die Karte ist nicht das Gebiet. Ich hingegen hatte die beiden Dinge immer verwechselt. Die Straßenkarte und die Karte der eigenen Gebiete.
    Dann verschwand dieser Gedanke wieder. An seiner
Stelle bildete sich mit Worten, die in meinem Kopf entstanden wie große Sprechblasen, eine Frage, die mir vor einiger Zeit ein deutscher Freund gestellt hatte: »In welche Richtung schauen die Leute in Bari eigentlich? Ich meine, physisch: In welche Himmelsrichtung wendet ihr euch? Wohin schaut ihr?«
    Wohin wir schauten? Wer weiß das schon, sagte ich mir. Allein schon der Gebrauch des Plurals verunsicherte mich. Ich wusste nicht, wohin wir schauten. Ich wusste nicht – und weiß bis heute nicht -, wohin die Bewohner Baris schauen; ob sie überhaupt irgendwohin schauen oder ob sie sich zufriedengeben mit dem, was vor ihrer Nase passiert (wo man übrigens besonders wenig sieht).
    So wurde mir klar, dass ich immer Richtung Norden und Osten geblickt hatte, die Adria zu

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