Eine Nacht ist nicht genug
meinst du: Ist es wohl schon zu spät, um den Typen anzurufen?“
„Was meinst du denn?“ Leicht gereizt wies Emily auf den dunklen Nachthimmel, den man durchs Fenster sehen konnte.
Aber Kate bemerkte das gar nicht. Sie las die kurze Notiz zum millionsten Mal vor und stellte dann fest: „Was für ein unglaubliches Glück, dass wir diesen Luca kennengelernt haben!“
Doch Emily war sich da nicht mehr so sicher. Sie betrachtete Lucas kräftige, markante Handschrift, mit der er die Kontaktdaten eines leitenden Mitarbeiters einer internationalen Plattenfirma notiert hatte. Dass er Kate zuliebe seine Beziehungen spielen ließ, jedoch keinen Versuch unternommen hatte, mit ihr selbst Kontakt aufzunehmen, schmerzte sie sehr.
Aber Luca hatte ja auch gesagt, dass er ihr nur eine Erinnerung bieten könne. Und während Emilys Vernunft das in Ordnung fand, gefiel es ihrem Herzen ganz und gar nicht. Immer wieder fragte sie sich, warum er ihnen seinen Chauffeur geschickt hatte – und vor allem, warum er ihr keine Nachricht hatte überbringen lassen … Es tat ihr weh, und dennoch konnte sie die Hoffnung nicht ganz aufgeben
„Du solltest jetzt schlafen, Kate“, sagte Emily. Sie ließ sich auf das untere Bett fallen, versuchte, nicht mehr an Luca zu denken, und wünschte, sie könnte den Tag mit ihm einfach als schöne Erinnerung abtun. Doch keins von beidem gelang ihr.
Als Emily drei Wochen später zu Fuß zur Herberge ging, war sie noch keinen Schritt weiter als bei ihrer Ankunft.
Eigentlich hätte sie ziemlich schnell Arbeit finden müssen. Schließlich arbeitete sie bereits seit vielen Jahren im Verkauf. Sie hatte sich zu einer leitenden Position hinaufgearbeitet und verfügte über ausgezeichnete Referenzen. Stattdessen hatte Kate einen Job in einem Fachgeschäft für Musik-CDs sowie ein Zimmer in einer WG gefunden. Außerdem hatte sie den leitenden Mitarbeiter der Plattenfirma angerufen, den Luca ihr genannt hatte. Der Mann hatte bereits auf ihren Anruf gewartet und sie zum Vorsingen eingeladen – und war von Kates Können begeistert gewesen.
Bei ihrer Schwester hatte sich in der kurzen Zeit sehr viel getan, bei Emily dagegen gar nichts. Doch daran war sie selbst nicht ganz unschuldig. Nach dem, was sie in Italien erlebt hatte – als sie eine ganz neue Welt des Vergnügens kennengelernt und eine Identität unabhängig von Kate entdeckt hatte –, war ihr klar geworden, was sie alles versäumt hatte. Nun wollte sie ein eigenes Leben führen. Dazu gehörte auch, dass sie nicht mehr im Verkauf tätig sein würde. Jetzt musste sie nur noch herausfinden, was für eine Arbeit sie stattdessen wollte, und das war nicht einfach. Doch da Emily Geld gespart hatte und sparsam leben konnte, konnte sie sich Zeit lassen und in Ruhe nachdenken.
Sie schlenderte durch die Straßen, betrachtete die Sehenswürdigkeiten und nahm einfach die Atmosphäre in sich auf. Ihr war klar, dass sie nicht nach Neuseeland zurückwollte, doch ob sie in London bleiben würde, wusste sie auch noch nicht genau. Also erkundete sie die Stadt, solange sie die Gelegenheit dazu hatte.
Es war ein merkwürdiges Gefühl, keinerlei Verantwortung zu tragen. Zum ersten Mal seit langer Zeit gab es niemanden, für den Emily zu kochen oder zu sorgen hatte. Sie musste sich weder an Termine halten, noch hatte sie sonstige Verpflichtungen. Niemand stellte Forderungen an sie. Und hatte sie nicht genau von dieser Freiheit so lange geträumt? Doch allein zu sein machte nicht so viel Spaß, wie Emily gedacht hätte.
Als sie eine Wagentür zuschlagen hörte, wandte sie den Kopf und erkannte die graue Limousine vom Flughafen. Emily versuchte sich zu konzentrieren, damit sie weiter geradeaus gehen konnte, doch schnell gab sie es wieder auf. Stattdessen blieb sie stehen und sah zu, wie Luca selbstbewusst die Straße überquerte und auf sie zukam.
„Emily.“
Sein markanter ausländischer Akzent war deutlich zu hören. Emily musste all ihre Kraft zusammennehmen, um nicht zu Luca zu eilen und ihn wissen zu lassen, wie sehr sie sich über das Wiedersehen freute.
„Was machst du hier?“ Emily erkannte kaum ihre eigene Stimme wieder.
„Ich wollte sehen, wie du zurechtkommst.“ Lucas Stimme stockte leicht, und er atmete tief ein. „Schließlich wohnst du anscheinend noch immer in dem Hostel.“
„Ja.“
„Aber warum ist Kate allein in eine WG gezogen?“, fragte er mit unverhohlenem Missfallen.
„Sie ist noch jung und genießt die Freiheit ihres neuen
Weitere Kostenlose Bücher