Eine Nacht, Markowitz
hab sie übersetzt, Tag und Nacht. Glaub mir, so was Schönes hast du noch nicht gesehen. Das haben die sogar gesagt, die Leute bei den Verlagen. Sie haben zugegeben, dass man solche Gedichte hier noch nie gesehen hat.« »Wenn das so ist«, fragte Jakob Markowitz verwundert, »warum wollen sie sie dann nicht herausbringen?« Bella sprang vom Schemel auf. »Warum sie sie nicht herausbringen wollen, fragst du? Ja, warum nicht?« Während Jakob Markowitz noch überlegte, ob sie eine Antwort erwartete, erwiderte Bella hastig: »Weil sie kein Vorbild ist!«
»Was soll das heißen?« Bella antwortete nicht. Ihre Füße kreisten im Zimmer umher wie eine irre Motte, von der Kommode zum Tisch, vom Tisch ans Fenster. Sie fürchtete, wenn sie stehen bliebe, könnte der Fußboden unter ihr versengen, so glühend war ihr Zorn. »Sie haben gesagt, solch eine Frau, die gerade an dem Tag Hand an sich legte, als unser Volk endlich seine Heimat erhielt, die in einer gojischen Sprache schrieb und aus Schwäche und Egoismus ein kleines Kind zurückließ, eine solche Frau sei kein Vorbild.« Jetzt blieb Bella einige Zentimeter vor Jakob Markowitz stehen. Ihre Augen loderten. »Sie werden die Gedichte nicht herausbringen.« Und plötzlich brach sie in Tränen aus. Jakob Markowitz wollte sie in die Arme schließen, traute sich aber nicht. Und so stand sie da und weinte große, majestätische Tränen, schniefte und sagte: »Diese Miststücke, sie werden sie nicht herausbringen.« Jakob Markowitz brannte vor Verlegenheit, und Bella wischte sich mit der linken Hand die Tränen aus dem Gesicht. Jakob Markowitz erschauerte angesichts der narbenübersäten Hand, sagte aber nichts. Ihre Weigerung, ihm die Herkunft der Narbe zu erklären, ihre Weigerung, ihm irgendwas zu verraten, war ihm sehr wohl in Erinnerung. Bella bemerkte Jakob Markowitz’ Blick und lächelte traurig. »Mit dieser Hand habe ich Rachel Mandelbaums Gedichte aus dem Feuer gezogen. Abraham wollte sie verbrennen. Ich konnte den Gedanken nicht ertragen, dass sie für immer verloren wären.« Beim Sprechen strich Bella sich mit der gesunden Hand über die vernarbte. »Und nun sind sie doch für immer verloren. Ein Gedicht, das von keinem gelesen wird, zerfällt zu Staub. Hätte ich Abraham Mandelbaum das Notizheft verbrennen lassen, hätten die Leute wenigstens einen Moment den Rauch gesehen.«
Jakob Markowitz steckte die Hand in die Jackentasche. Dort lag der Umschlag, den er von dem Geliebten des Spielers erhalten hatte. Er war viel leichter als am Tag der Übergabe, aber doch noch voller Scheine. »Nimm.« Jakob Markowitz zog den Umschlag aus der Tasche und reichte ihn Bella. Sie schaute hinein und machte große Augen. »Wenn die Verlage Rachels Gedichte nicht veröffentlichen wollen, dann bringen wir sie heraus.« Als Jakob Markowitz das Wort »wir« sagte, ließ eine wohlige Wärme in seinem Innern sein Gesicht erröten. Bella legte den Umschlag auf die Kiefernkommode und ergriff Jakob Markowitz’ Arm, umfasste ihn mit ihrer gesunden und ihrer narbigen Hand. So hielt sie seinen Arm eine lange Weile, bis Zwi vom Feld hereingerannt kam, Jakob Markowitz sah und »Papa!« rief.
Die folgenden Wochen waren für Jakob Markowitz die schönsten seines Lebens. Seit er mit seinen Kameraden um die Festung gekämpft hatte, hatte er keine solche Einigkeit mehr empfunden. Dass solche Einigkeit mit keinem anderen als Bella entstehen könnte, hatte er nicht einmal zu träumen gewagt. Gemeinsam ordneten sie Rachel Mandelbaums Gedichte nach Themen. Gemeinsam überlegten sie, was sie an den Anfang des Bandes stellen und mit welchem Gedicht sie ihn beenden sollten. Gemeinsam fuhren sie in die Stadt, um Druckereien abzuklappern. Zwi kam immer mit, ließ den Blick von seiner Mutter zu dem Mann, den er seinen Vater nannte, wandern und von dem Mann wieder zurück zu seiner Mutter, als fürchtete er, wenn er nur einen Moment nicht von Bella zu Markowitz und von Markowitz zu Bella schaute, werde einer der beiden die Gelegenheit nutzen und verschwinden. Er ängstigte sich umsonst – keiner der beiden dachte daran zu verschwinden. Bella Markowitz hatte sich der Veröffentlichung von Rachel Mandelbaums Gedichten nie so nahe gefühlt. Und Jakob Markowitz hatte sich Bella nie so nahe gefühlt. Er las nach wie vor lieber botanische Schriften als Gedichtbände, und ein Granatapfelsämling berührte ihn zweifellos weit mehr als eine treffende Metapher, aber Rachels Verse lagen ihm am Herzen. Diese Verse
Weitere Kostenlose Bücher