Eine Nacht, Markowitz
von Seev Feinberg zu dem goldhaarigen Mädchen auf seinen Schultern. Seev Feinberg kräuselte ungehalten die Brauen. Die Tagesmutter sah ihn gleichmütig an. Sie hatte zu viele Jahre quengelnde Kleinkinder gepflegt, um sich von einem wütenden Fremden aus der Ruhe bringen zu lassen. Ihr Gesicht war klein und schrumpelig, und über der Oberlippe prangte ein Schnurrbart, der Feinbergs nicht weit nachstand. Sie hatte nie geheiratet und es nie bereut. Männer waren für sie Kinderzeugungsmaschinen und weiter nichts, und da sie kraft ihres Berufs ständig von Kindern umringt war, hatte sie keinen Bedarf an solch einer Maschine. Sie liebte Kinder weit mehr als Erwachsene und kümmerte sich daher lieber um Kinder bis zu zwölf oder dreizehn Jahren, als ein eigenes Kind in die Welt zu setzen, das zwar anfangs sehr niedlich wäre, früher oder später jedoch seine Süße verlieren und ein reifer Mensch werden würde, mit großen Händen und stinkigen Füßen und einem Mund, der Frauen mit Damenbart verspottete.
»Ich bin gekommen, um mein Kind abzuholen.«
»Wirklich?«
Seev Feinberg stampfte ungeduldig mit dem Fuß. »Sehen Sie, Tante, ich bin der Mann von Sonia Feinberg. Ich bin aus Deutschland zurückgekehrt. Mir ist bekannt, dass mein Sohn hier in der Wohnung ist. Jetzt lassen Sie ihn mich bitte sehen!« Die Tagesmutter blieb ungerührt stehen. »Wie soll ich wissen, dass Sie wirklich der Vater des Kindes sind?« Seev Feinbergs Stimme dröhnte durchs Treppenhaus. »Gewiss bin ich der Vater des Kindes! Was denken Sie sich denn, dass ich durch die Straßen schlendere und Kinder einsammle?!« Während Seev Feinberg noch schrie, blickte die Tagesmutter wieder auf Naama. »Und wer ist das? Es kann nicht angehen, dass sie Sonias Tochter ist.«
Seev Feinberg zögerte einen Moment, ehe er antwortete. Das genügte der Tagesmutter, um die Wohnungstür rasch zuzumachen und zu verriegeln. Seev Feinberg ballerte mit einer Kraft an die Tür, die das ganze Haus einzureißen drohte. Die Tagesmutter öffnete die Tür einen Spalt. »Tante, das ist eine lange Geschichte, aber glauben Sie mir – ich bin der Vater des Jungen. Wenn Sie nur so gut sein möchten, ihn herzuholen, wird er mein Gesicht sofort erkennen.« Noch im Reden sah Seev Feinberg seinen Sohn am Ende des Korridors trappeln, einem wegspringenden Ball nachlaufen. »Jair! Jair!« Auf seinen Namen hin hob der Junge die Augen. Am Ende des Korridors, jenseits der Tür sah er einen schnauzbärtigen Mann mit zornrotem Gesicht und verzweifeltem Blick, der laut seinen Namen rief. Da vergaß Jair den Ball und fing vor Schreck an zu weinen. Die schnurrbärtige Tagesmutter schlang schnell den rechten Arm um das weinende Kind und knallte mit der linken Hand Seev Feinberg die Tür vor der Nase zu.
Ehe Jakob Markowitz sein Haus betrat, zog er die Jacke an, in der Annahme, Bellas Kühle würde weit frostiger sein als die Winterwinde draußen. Doch als er einen Fuß auf die Schwelle setzte, fand er es drinnen warm. Es dauerte ein paar Minuten, ehe er erfasste, dass die Wärme im Haus unnatürlich war. Überhitzt. Bella kochte vor Wut, und die Hauswände kochten mit. Und diesmal hatte ihre Wut, zur Abwechslung, rein gar nichts mit Jakob Markowitz zu tun.
»Sie haben ihn abgelehnt. Ausnahmslos. Alle haben ihn abgelehnt.«
Sie saß auf einem Schemel in der Zimmerecke. Mit feuchten Augen und grimmig gefurchter Stirn. Jakob Markowitz’ Heimkehr nach zweimonatiger Wanderschaft löste keinerlei Veränderung bei ihr aus, abgesehen davon, dass sie nunmehr ihn beim Sprechen ansah, während sie ihre flammenden Reden zuvor der Kommode aus Kiefernholz gehalten hatte. »Wie kann es bloß angehen, dass sie ihn abgelehnt haben? Diese Schweine, selbst reines Gold hätten sie abgewiesen, wenn man ihnen Gelegenheit dazu gegeben hätte.« Jakob Markowitz lauschte Bellas stürmischen Ergüssen über Schweine, Hunde und Kriechtiere, die Gold, Brillanten und Perlen verschmähten, noch ein paar Minuten, ehe er zu fragen wagte, wovon sie eigentlich redete. »Rachels Gedichtband, Markowitz, sie wollen ihre Gedichte nicht. Keiner will sie haben.«
Jetzt begriff Jakob Markowitz, was Bella so angestrengt übersetzt hatte, als er aus dem Krieg heimgekehrt war, und was er nicht begriff, erklärte sie ihm auf der Stelle. Die schmähliche Zurückweisung traf Bella so heftig, sie vergaß sogar ihr Gelübde, Markowitz aus ihrem Leben auszuschließen und all seine Bemühungen mit beredtem Schweigen zu parieren. »Ich
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