Eine Nacht, Markowitz
für die Brüste der Kellnerin. Durch die weiße Haut konnte er das feine Geflecht bläulicher Äderchen erkennen. Er betrachtete dieses Wunderwerk einige Sekunden und richtete sich dann erneut an seinen Freund. »Verstehst du, Markowitz, nach Europa zurückzukehren ist, als würdest du wieder mit einer Frau schlafen, die du als Junge geliebt hast. Du bist ganz Feuer und Flamme, ohne zu merken, dass die Frau von damals nicht mehr existiert. Vergebens schwelgst du in ihrem Fleisch, vergebens guckst du ihr in die Augen. Vielleicht findest du dort einen schwachen Widerhall der Frau, die du mal geliebt hast, mehr nicht. Seit die anderen Jungs und ich von Bord sind, suchen wir die Orte von einst auf, trinken die Getränke von einst, flüstern den Mädchen die gleichen unanständigen Sätze ins Ohr. Vergebens. Daher das Schwindelgefühl, mein Freund, deshalb torkeln wir seit Verlassen des Schiffes wie Betrunkene herum. Das Druckgefälle zwischen damals und heute drückt aufs Trommelfell und beeinträchtigt unseren Gleichgewichtssinn.«
Jakob Markowitz nickte schwach, seine Augen verirrten sich in dem bläulichen Adergeflecht im Ausschnitt der Kellnerin. Da es ihm nie vergönnt gewesen war, mit einer Frau zu schlafen, die er als Junge geliebt hatte, konnte er schwer nachvollziehen, was Feinberg an einer Wiederholung dieser Handlung auszusetzen hatte. Doch plötzlich verbanden sich die Äderchen im Ausschnitt und erschienen ihm wie der Baum im Hof seines Elternhauses, und da verstand er. Die meisten Jahre seiner Kindheit hatte er mit diesem Baum gekämpft, der ihm damals höher als alle anderen Bäume vorgekommen war. Die Narben an seinen Knien zeugten deutlich von seiner Beziehung zu ihm: Hier war er abgestürzt bei dem Versuch, von der rechten Seite heraufzuklettern, und hier hatte er sich verletzt, als er ihn vom linken Ast her bezwingen wollte, und hier, als er den Stamm hochgestürmt war, mit dem ganzen Zorn eines Kindes, das den Baum erobern möchte und immer wieder scheitert. Die Albträume des kleinen Jakob Markowitz hatten sich nicht von denen anderer Kinder unterschieden, aber seine guten Träume hatten sich um die Äste des Baumes gerankt. Nacht für Nacht hatte er von der grünen Krone geträumt, den Tausenden von Blättern, die keine Menschenhand je berührt hatte, und die nun plötzlich erzitterten, als Jakob Markowitz den Kopf durch die Zweige steckte. Der Baum redete zu ihm in einer Fülle von Grüntönen, und Jakob Markowitz antwortete ihm mit Koseworten. Von der Krone aus reichte der Blick an alle vier Enden der Erde, und Jakob Markowitz sah die Eisbären am Nordpol, den Ozean und die Berge und auch Burgen, deren Türme in den Himmel ragten. Unten, jenseits der Vogelnester und der Koboldverstecke, jenseits von Laub und Zweigen, dicht am dicken Stamm, standen seine Eltern. Ihre Gesichter verschwammen im Traum, aber ihre Worte klangen scharf und deutlich. Seine Mutter schrie: »Halt dich gut fest!«, und sein Vater schrie: »Sei vorsichtig!«, aber praktisch sagten sie beide: »Jakob, kleiner Jakob, wie gut zu wissen, dass du’s so weit gebracht hast.«
Sie waren fortgezogen, als er zehn Jahre alt war, und mit zwanzig war er mal wieder dort gewesen. Der erwachsene Jakob Markowitz ging rasch um das Haus mit der abblätternden Farbe herum, ignorierte die Rosen im Garten und die fremden Unterhosen an der Wäscheleine und steuerte seinen Baum an. Im ersten Moment dachte er, der sei ersetzt worden, die neuen Hausbewohner hätten nicht nur die Bilder an den Wänden und die Kleidungsstücke auf der Leine ausgetauscht, sondern auch einen neuen Baum anstelle des alten gepflanzt. Doch als er zitternd die Rinde des Stamms betastete, eines seiner Blätter befühlte, war es unleugbar der von damals. Jetzt brauchte er nicht zu kämpfen. Nach knapp einer Minute spähte er schon aus der Krone, die Äste ächzten unter seinem Gewicht. Unter ihm lagen die angrenzenden Höfe, Teppiche bunter Wäschestücke und leckender Dächer. Von den Eisbären und Kobolden fehlte jede Spur, aber in einem Nachbarhof sah er eine ausgehungerte Katze, die vergeblich einer Taube nachjagte. Jakob Markowitz kletterte vom Baum und kam nie wieder.
Sieben Jahre später, in einem eleganten Kaffeehaus, dessen Ruhe er gestört hatte, blickte Jakob Markowitz in die Baumkrone, die einen kurzen Moment zwischen den Brüsten der Kellnerin auftauchte. »Du hast recht, Feinberg«, sagte er, »man darf nicht zurück an einen Ort, den man mal geliebt hat.«
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