Eine Nacht, Markowitz
abgelaufenem Verfallsdatum. Das war nicht alles. Das konnte nicht alles sein. Ein anderes Mädchen hätte sich vielleicht in eine Sekte locken lassen. Bella Seigermann wählte die Dichtung. Der liebe Gott hatte nichts weiter zu bieten als die Welt, die er erschaffen hatte: Tauben auf dem Platz und Straßenlaternen und Tafelservietten und Milchflaschen. Doch anders als der liebe Gott beschränkte sich der Dichter nicht auf sechs Schöpfungstage, sondern erwachte jeden Morgen, um Welten einzureißen und neue zu errichten.
Deshalb liebte Bella Seigermann die Dichtung und liebte Dichter. Als sie ihre Jungfräulichkeit im Bett eines Dichters verlor, verglich dieser das Blut auf dem Laken mit einer erblühenden Rose und versüßte ihr damit schlagartig den Schmerz zwischen den Beinen. Gleich den Wundertätern, die einen Stab in eine Schlange, Wasser in Wein verwandelten, verwandelte dieser Sterbliche Körpersaft in eine Blume. Dann brach der Krieg aus. Der Dichter versuchte, mit seinen Worten eine gerechte Welt zu schaffen, und verschwand mitten in der Nacht aus seinem Haus. Die anderen Dichter wurden ebenfalls verhaftet oder flüchteten oder fügten sich den Forderungen der Obrigkeit und schufen mit ihren Worten allerlei Welten, die Bella Seigermann nicht besuchen wollte. Als sie in einer zionistischen Zeitung ein übersetztes Gedicht eines hebräischen Dichters las, beschloss sie, nach Palästina auszuwandern. Ihre Eltern atmeten erleichtert auf. Ein so schönes Mädchen in so schweren Zeiten – das verhieß nichts Gutes.
Sobald Bella Seigermann sich in Bella Markowitz verwandelte und an Bord des Schiffes ging, sorgten sich ihre Eltern nicht mehr, aber Michael Katz’ Sorgen fingen erst an. Als er sich in einem muffigen Zimmer in der Tel Aviver Bar-Kochba-Straße die Leitung dieser Operation ausgemalt hatte, hatte er darüber gebrütet, wie er die Deutschen überlisten oder die britischen Soldaten überwinden könnte. Nie wäre er darauf gekommen, dass die größte Bedrohung für das Gelingen des Plans von einer gerade mal fünfzig Kilogramm schweren jungen Jüdin ausgehen könnte. Solange sie noch in der Großstadt weilten, hatte Bella Seigermanns Schönheit keine fatale Wirkung entfaltet, denn das Gift konnte sich in dem weitläufigen Straßennetz verteilen und harmlos verdunsten. Aber jetzt gärte es als offene Wunde im Herzen des Schiffes, lockte die Männer an wie Fliegen, während die Frauen wie Maden darin nisteten. Fast zwei Tage lang fuhr das Schiff auf Gegenkurs, weil der Kapitän an Bella dachte statt an seine Geräte. Mindestens zwei Handgemenge täglich brachen aus, bei denen die Streithähne ihren Namen auf den Lippen führten. Chawa Blausteins Schluchzen, nachdem Chanan ihr erklärt hatte, sie sei zwar auf dem Papier seine Ehefrau, sein Herz aber gehöre Bella, brachte das ganze Schiff um den Schlaf. Aber auch als Chawa Blaustein endlich einschlief, und mit ihr die übrigen Passagiere, blieben Jakob Markowitz’ Augen offen. Praktisch hatte er sie kaum zugetan, seit Bella Seigermann sich vor gut zwei Tagen in der Wohnung im Osten der Stadt zu ihm umgedreht hatte. Als fürchtete er, sie könnte ihm im Schlaf entschwinden und er würde sie niemals wiederfinden. Er lag auf dem Rücken und dachte an das Schiff, das Kurs auf Israel hielt, wo Bella Seigermann und er getrennte Wege gehen würden. Sie auf den Olymp und er in die Moschawa. Beinah wäre er in den Maschinenraum gelaufen, um dem Schiff Halt zu gebieten. Das Abenteuer seines Lebens würde in wenigen Tagen enden, und er käme zurück wie er gekommen war, denn sein Herz floss zwar über, aber seine Hände waren leer.
Jakob Markowitz wollte Seev Feinberg um Rat bitten, aber ohne den Kopf zu heben, wusste er, dass sein Freund nicht in seinem Bett lag. Seit der Abfahrt aus Europa verbrachte Seev Feinberg alle Nächte an Deck, und Jakob Markowitz nahm an, sein Freund würde, systematisch wie immer, die Betten der Frauen in alphabetischer Reihenfolge aufsuchen. Er irrte sich. Seit Seev Feinberg Bella Seigermann in die Augen gesehen hatte, die Sonias in allem glichen, nur einen Millimeter weiter zusammenstanden, wie es dem gängigen Schönheitsideal entsprach, suchte er nur noch ihre Nähe. Ganze Nächte verbrachte Seev Feinberg mit Bella Seigermann, schilderte ihr Sonias Vorzüge und beklagte seine früheren Seitensprünge. Bella, die es nicht gewohnt war, neben einem Mann zu sitzen, der an eine andere dachte, empfand seine Gesellschaft als erfrischend
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