Eine Nacht, Markowitz
Pracht,
Erfüllet das Herz mit Kühnheit und Macht.
Der Zeitungsausschnitt steckte, sorgfältig gefaltet, in dem Medaillon, das zwischen ihren Brüsten ruhte. Vorher hatte sie dort ein Foto ihres geliebten Dichters verwahrt, aber das Herz hatte ihr weh getan bei dem Gedanken, das Bild überdauere den Abgebildeten. Deshalb hatte sie sich entschieden, es gegen die Worte des hebräischen Dichters zu tauschen, die – Gott sei Dank – ein Versprechen für die Zukunft waren und kein Denkmal zu Ehren der Vergangenheit. Nun haben es auf der Haut ruhende Worte so an sich, dass sie einsickern, und tatsächlich gelangten die Worte des hebräischen Dichters – feierlich, erhaben, voll des Safts praller Zitrusfrüchte – auf Bella Seigermanns Haut und ließen einen kleinen Ausschlag erblühen. Bella Seigermann kratzte sich ein bisschen, besah sich missmutig ihre gerötete Haut, legte das Medaillon aber nicht ab.
»So viel ich verstehe, lieben Sie also Orangen?« Bella Seigermann nickte vehement, ein großes, eindeutiges Ja mit einem kleinen Fragezeichen dahinter. Mochte sie Orangen wirklich? Im letzten Sommer hatte sie zum ersten Mal eine gegessen, und die fand sie zu teuer und dem Apfel bei Weitem unterlegen. Aber seit ihr Blick auf das Gedicht in der Zeitung gefallen war, sehnte sie sich mit Macht nach Orangen. Sie bestürmte ihre Eltern und durfte daraufhin täglich eine Orange essen, wohl wissend, dass sie dafür auf andere Sachen verzichten mussten. Doch jetzt versuchte sie sich den Geschmack der Orange ins Gedächtnis zu rufen und brachte es nicht fertig, denn der eigentliche Geschmack hatte nie ihren Gaumen erreicht, war immer vom Geschmack der Erwartung überdeckt gewesen. Bella Seigermann hatte jeden Tag mit glasigen Augen ins Fleisch einer Orange gebissen, dabei grüne Weinberge und Felder, Hügel bedeckt mit Teppichen von Zitrushainen vor sich gesehen. Und zwischen den Bäumen spazierten die Wundertäter, verwandelten einen Stab in eine Schlange, Wasser in Wein, Blut in eine Rose, und ein hebräischer Dichter pflückte eine Orange vom Zweig, hielt damit die Sonne selbst in der Hand und machte sie Bella Seigermann zum Geschenk.
»Ja«, sagte Bella Seigermann zu Jakob Markowitz, »ich liebe Orangen sehr.« Jakob Markowitz versprach, ihr Orangen zu kaufen, sobald sie die Erde Palästinas erreichten, und Bella Seigermann spürte das Medaillon auf ihrer Brust und lächelte, und Jakob Markowitz freute sich von Herzen.
Seither waren vier Tage vergangen. Jakob Markowitz versuchte bei zahlreichen Gelegenheiten, das Gespräch fortzusetzen, dozierte vor Bella Seigermann über Orangensorten und Lausbefall und über moderne Methoden zur Ertragssteigerung. Aber Bella Seigermanns Blick schweifte von ihm ab und aufs Meer. »Was sieht sie dort?«, fragte er Seev Feinberg, als er ihm eines Nachts begegnete. »Wenn man sie anschaut, könnte man meinen, wir hätten eine ganze Schule von Walen vor uns.« Aber Bella Seigermann interessierte sich kein bisschen für Wale, genauso wenig, wie sie sich für Lausbefall oder Ertragssteigerung oder für echte Orangen interessierte. Bella Seigermann blickte aufs Meer, weil es so undurchsichtig war wie ein Spiegel, genau das passende Material, um Orangen der Erwartung darauf schwimmen zu lassen, einen orangefarbenen Streifen, der von dem kleinen Schiff bis nach Palästina reichte.
Jetzt, als er sich hundertdreißig Mal im Bett hin und her gewälzt hatte, begriff Jakob Markowitz, dass er nicht länger warten konnte. Nur wenige Tage blieben bis zum Ende der Reise, und wenn er Bella erobern wollte, musste er jetzt als Erstes aus dem Bett steigen und sie suchen. Als er noch an Deck umherstreifte und überlegte, was der zweite Schritt sein müsste, erkannte Jakob Markowitz Bella Seigermanns Profil. Sie hockte auf einer Kiste und unterhielt sich mit einem Mann, der mit dem Rücken zu ihm saß. Das Mondlicht fiel auf ihr Haar und färbte es über und über in Silbersträhnen. In diesem Augenblick sagte der Mann etwas, und Bella Seigermann lachte auf. Jakob Markowitz’ Herz schnürte sich zusammen, zersprang aber nicht. Tief im Innern wusste er, dass nur ein himmlisches Wunder ihn überhaupt mit Bella Seigermann hatte zusammenführen können, wie konnte er nach dieser wundersamen Begegnung auch noch zu erwarten wagen, sie würde sich ihm hingeben? Aber dann wandte der Mann den Kopf, und Jakob Markowitz brach es nun doch das Herz, denn obwohl der Mann ganz in Dunkel gehüllt saß, waren selbst in
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