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Eine Nacht, Markowitz

Eine Nacht, Markowitz

Titel: Eine Nacht, Markowitz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ayelet Gundar-Goshen
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fragte sich, ob das Haus jemals wieder eine für menschliche Behausungen geeignete Temperatur annehmen würde. Wenn Bella verschwunden war, wurde Markowitz von Schweißausbrüchen und Visionen heimgesucht. Wenn sie wiederkam, zitterte Markowitz vor der Kälte, die durch die Zimmer wehte. Die steinernen Mauern, auf die er so stolz war, die das Haus im Winter gegen die Kälte und im Sommer gegen die Hitze schützten, diese Mauern waren nun mit einem bösen Zauber belegt, der nur ein einziges Ziel kannte: Jakob Markowitz unentwegt das Leben zu vergällen. Brachte er Früchte aus der Pflanzung in die Küche, machte der Kälteschock sie ungenießbar. Rutschte ihm nachts im Bett vor lauter Wälzen die Decke weg, wachte er mit Husten und Schnupfen auf, als hätte er unter freiem Himmel genächtigt. Bella jedoch gewöhnte sich ohne Weiteres an die Absonderlichkeiten des Hauses, fast so, als hätte sie sie selbst herbeigerufen. Zwar drang die Kälte auch ihr in die Knochen, und manchmal fragte sie sich, wieso es draußen warm und drinnen frostig sein konnte. Aber ihr gefiel der Gedanke, dass das Haus sich nur seinen Bewohnern anpasste, dass die Wände den Menschen, die in ihnen wandelten, nicht gleichgültig gegenüberstanden. Je mehr sie den Mann im Haus hasste, desto lieber wurde ihr das Haus selbst. Sie nannte es nach wie vor »Markowitz’ Haus«, strich aber häufiger liebevoll über eine kühle Wand, und ein Mal schmiegte sie sogar eine weiche Wange an den Türpfosten.
    Abends, wenn Markowitz die Tauben mit Brotkrümeln fütterte, kostete Bella eigene Brosamen: Sie nahm das Medaillon ab, zog den Zeitungsausschnitt heraus und las die Worte des hebräischen Dichters, die Worte, die sie hergelockt hatten, nach Palästina.
    Der Orange gleich leuchtet die Sonne in goldener Pracht,
    Erfüllet das Herz mit Kühnheit und Macht.
    War die Sonne tatsächlich orangefarben? Manchmal, wenn sie mit Rachel und Sonia gegen Sonnenuntergang spazieren ging, sahen sie den leuchtenden Feuerball auf seinem Weg ins Meer. Sonia sagte dann gern: »Seht sie euch an, wie zwei Verliebte, die sich gleich treffen«, und Rachel: »Wie ein Selbstmörder, der gleich in den Tod geht«, und Bella: »Eine optische Täuschung. Eine optische Täuschung und nichts weiter. Millionen von Kilometern trennen sie voneinander, und das vergisst man leicht.« In diesen Momenten war die Sonne orangefarben, aber nicht immer. Manchmal war sie rot wie das böse Auge eines verendenden Stiers, und manchmal, an den dunstigen Tagen, die ihr so zuwider waren, schimmerte die Sonne schleimig hell wie Eiweiß. Sah sie die Sonne untergehen, konnte sie nie daraus entnehmen, welche Farbe sie am nächsten Abend haben würde. Anders die Worte des hebräischen Dichters, die auf dem Zeitungsausschnitt stetig, aber kaum wahrnehmbar verblassten. Zuerst verwandelte sich das Tiefschwarz in Schwarz. Dann in Dunkelblau. Dann schlich sich ein Grauton ein. An dem Tag, an dem der Buchstabe K des Wortes »Kühnheit« verblich, beschloss Bella, den hebräischen Dichter ausfindig zu machen. Sie sagte Jakob Markowitz kein Wort beim Weggehen, aber da sie fast all ihre Kleider mitnahm, begriff er, dass sie vielleicht nicht mehr zurückkommen würde. In ihrer Abwesenheit erlaubte er sich etwas, das er in ihrer Anwesenheit nicht tat: Er nahm sich ein schlichtes, von ihr zurückgelassenes Hemd und schlief mit ihm in den Armen ein. Zuweilen befürchtete er, sie könnte mitten in der Nacht zurückkehren und ihn mit ihrem Kleidungsstück in den Armen erwischen, doch er konnte nicht mehr einschlafen, ohne dass die Ärmel seine Arme umschmeichelten. Hätte jemand in Jakob Markowitz’ Fenster gespäht, hätte er bestimmt gedacht, er sei verrückt geworden. Jakob Markowitz dachte sich das manchmal auch.

10
    E ines Morgens erwachte Rachel Mandelbaum mit Lust auf Trauben. Es war heiß, und die Zunge klebte ihr am Gaumen, der sich wie Schmirgelpapier anfühlte. In aller Frühe war Abraham Mandelbaum nach Haifa aufgebrochen. Am Abend wollte er mit neuen Messern wiederkommen. Als er ging, krähte der Hahn im Hof fröhlich und laut, und alle Tiere im Dorf atmeten erleichtert auf. Der Schächter war weg, sollte nicht vor dem Abend zurück sein. Die Schafe blökten kräftiger. Hühner drehten sich frech, und Rachel Mandelbaum lag im Bett und dachte, wie süß ihr jetzt Trauben munden würden. Das Baby in ihrem Bauch kickte zustimmend. Auch die Kleine wollte also Trauben haben. Und vielleicht hatte die Mutter von

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