Eine Nacht, Markowitz
Anfang an nur den Wunsch des Babys erfüllen wollen. Wie dem auch sei, die Lust auf Trauben war groß und ließ Rachel aus dem Bett steigen.
Ihre Brüste waren voll und schwer und träufelten ab und zu Milch auf ihr Hemd. Wenn Abraham Mandelbaum es sah, wandte er rasch den Blick ab, aber das Strahlen auf seinem Gesicht erfüllte den Raum. Jetzt war Abraham Mandelbaum unterwegs nach Haifa, und Rachel Mandelbaum hatte Lust auf Trauben. Sie hätte töten können, um an Trauben zu gelangen. Also zog Rachel Mandelbaum ein sehr weites Kleid an und machte sich auf die Suche nach einem vergessenen Traubenbüschel.
Seit Beginn ihrer Schwangerschaft hatte Rachel Mandelbaum nur noch selten das Haus verlassen. Früher hatte Abraham Mandelbaum ihre Schritte aus Eifersucht überwacht. Jetzt tat er es aus Sorge. Als Rachel Mandelbaum in die Felder hinausging, fiel ihr ein, dass sie schon tagelang nicht mehr allein draußen gewesen war. Das Baby im Bauch kickte erneut, um sie daran zu erinnern, dass sie auch jetzt nicht allein war. Rachel Mandelbaum streichelte ihren Bauch und flüsterte, »Still, still«, ein bisschen zum Baby, ein bisschen zu sich selbst. Wie schön erschien ihr das Feld an jenem Morgen, obwohl nur Disteln auf der trockenen Erde wuchsen. Denn sie konnte zwischen den Disteln und Dornen die künftigen Blumen erahnen, genau wie sie an den Tritten gegen ihre Bauchwand das Baby erahnen konnte. Aus den Blumen würde sie einen Kranz für ihre kleine Tochter winden, würde ihn ihr aufs seidig-blonde Haar setzen. Nun war Rachels Haar zwar dick und schwarz und Abraham Mandelbaums braun und kraus, aber sie wusste, dass das Haar der Kleinen golden wie Weizen sein würde, wusste, dass ein Blick darauf genügen würde, um sie, die Mutter, wie Brot zu sättigen. Eine Tochter würde sie bekommen, klein und schön, und sie würde ihr Kleidchen anziehen und einen Schal stricken. Auch wenn Abraham Mandelbaum ihr nichts als diese Tochter geben sollte, würde es reichen.
Über eine Stunde wanderte Rachel die Feldwege entlang. Die flirrende Hitze täuschte sie: Wo immer sie einen Weinstock zu sehen meinte, gab es nichts als dürre Erde. Schließlich setzte sie sich erschöpft unter einen Johannisbrotbaum. Jetzt wünschte sie sich keine Trauben mehr, bloß noch Wasser. Klares, reines Wasser, das das Schmirgelpapier in ihrer Kehle weich machen würde. Rachel Mandelbaum versuchte aufzustehen, aber es ging nicht. Der Johannisbrotbaum über ihr drehte sich, seine Früchte, lange, braune Zungen, tadelten: Warum bist du allein in die Felder gegangen? Im neunten Monat, wie verantwortungslos. Trauben wolltest du, konntest dich nicht beherrschen. Rachel Mandelbaum schloss die Augen, um die Johannisbrote nicht zu sehen und ihr Schimpfen nicht zu hören. Bald verstummten die Vorwürfe. Jetzt hörte sie nur ihren eigenen Herzschlag in den Schläfen pochen. Du trocknest aus, flüsterte sie sich zu, und ihre Herzschläge in den Schläfen plapperten ihr eilig nach: trock-nest au-us, trock-nest au-us, trock-nest au-us. Der Rhythmus, zuerst drohend und bedeutungsschwer, klang alsbald wie der eines Wiegenliedes, und Rachel wiegte sich darin, bis ihr die Augen zufielen. Sie erwachte in einer Wasserpfütze. Sogleich blickte sie nach oben, um die barmherzigen Wolken zu segnen, aber der Himmel war stahlblau. Nicht von oben war das Wasser gekommen, sondern von unten, aus ihrem Leib. Rachel steckte sich zwei bebende Finger zwischen die Beine. Kann nicht sein, ist zu früh, kann nicht sein. Und dann kam ein unglaublich scharfes Stechen, das Rachel durchzuckte und ihre Stimme zittrig machte und ihr zeigte: Doch, es kann sein.
Eine Frau kommt nieder unter einem Johannisbrotbaum, und der Abend zieht ein. Ihr Mann ist weg, kehrt erst bei Nacht zurück. Ihre Eltern sind fern überm Meer. Der Weg ist leer. Rachel Mandelbaum horchte auf die Geräusche. Ein Zweig knackte in der Nähe, eine Feldmaus floh raschelnd durch die Disteln. Die Vögel flatterten wie verrückt in den Sonnenuntergang hinein. Aber der Klang menschlicher Füße, der süße Klang menschlicher Füße, dieser Klang tönte nur in ihrem Gehirn. Oder doch nicht? Denn jetzt waren die Schritte deutlich zu hören, das Krachen der Disteln unter den Sohlen, der Atem eines Mannes. Kann nicht sein, dass ihr Kopf das fantasiert. Und tatsächlich, um die Wegbiegung kam Jakob Markowitz, mit besorgtem Gesicht. Ganze zwei Monate hatte er Bella nicht mehr gesehen. Er hatte auch weiterhin mit ihrem Hemd in den
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