Eine Nacht, Markowitz
Armen geschlafen, aber der Stoff hatte langsam den Geruch seiner Besitzerin verloren, war wieder zu einem gewöhnlichen Hemd geworden, völlig geruchlos. Er hatte seinen Geruchssinn noch so anstrengen, den Stoff noch so nah an die Nase halten können – es hatte kein Molekül des Körpers, das es einst umhüllte, mehr daran gehaftet. Mit dieser Einsicht war Jakob Markowitz aus dem Bett gestiegen und hatte bei Seev Feinberg an die Tür geklopft. »Von nun an bewache ich nachts die Felder. Wir brauchen uns nicht abzuwechseln. Ich kann sowieso nicht schlafen.«
Seev Feinberg hatte den Mund aufgemacht, um etwas zu erwidern, dann aber wortlos zugestimmt. Am nächsten Morgen erfuhren die Dorfbewohner, dass sie dank Jakob Markowitz vom nächtlichen Wachdienst befreit waren, und obwohl sie ihm eigentlich gar nicht dankbar sein wollten, nickten sie ihm doch zu, wenn sie ihm auf der Hauptstraße begegneten. Häufig dauerte das Nicken nur für den kurzen Moment des Passierens und machte dann wieder dem Zungenschnalzen Platz. So konnten die Dorfbewohner zu ein und derselben Zeit dankbar und vorwurfsvoll sein. Und Jakob Markowitz umrundete allnächtlich die Moschawa, das Gewehr in der Hand, die Augen offen. Vielleicht würde Bella plötzlich zurückkehren, und er würde sie vor arabischen Eindringlingen und jüdischen Liebhabern schützen, würde sie durch das dichte Dunkel heimbegleiten und ihr erzählen, wie schön die Nacht doch war. Von Tag zu Tag ging er früher auf Streifzug. Kaum, dass die Sonne sich zum Untergang neigte, eilte er schon aus dem Haus, ehe die Wände wieder mit ihren Trugspielen loslegten. Wenn bei einsetzender Dämmerung die Schatten immer länger wurden, ging das Haus nämlich zum Angriff über: Es gaukelte Markowitz Frauenschritte auf der Türschwelle vor, zog den Zweig einer Bougainvillea heran, um eine Silhouette vor der Gardine vorzutäuschen. Jakob Markowitz sah es und sehnte sich, und wenn er die Sehnsucht nicht mehr ertragen konnte, trat er seinen Rundgang früher an.
Als Rachel Mandelbaum Jakob Markowitz erblickte, stieß sie einen lauten Seufzer aus, in dem sich Verzweiflung und Hoffnung und der Schmerz der Wehen mischten. Einen glücklichen Augenblick lang hielt Jakob Markowitz die Frau unterm Baum für Bella, aber als er den runden Bauch bemerkte, sah er seinen Irrtum ein. Doch Jakob Markowitz kam gar nicht erst dazu, Enttäuschung zu verspüren, denn sogleich drangen ihm Rachels Worte in die Ohren: »Markowitz, es geht los.«
Oft hatte Jakob Markowitz kalbenden Kühen beigestanden und beim Waffenschmuggel im Süden sogar einmal der Geburt eines Kamels beigewohnt. Aber Rachel Mandelbaum war weit entfernt von Kamel und Kuh, und er war Bauer und kein Arzt. Diese Gedanken veranlassten Jakob Markowitz, »Ich hol Hilfe« zu rufen und loszulaufen, aber nach knapp zehn Metern hörte er wieder ihr Stöhnen. Rachel Mandelbaum hörte sich anders an als kalbende Kühe, trotzdem erkannte Jakob Markowitz am Ton, dass es gleich so weit war, und machte auf dem Absatz kehrt. Jakob Markowitz kniete neben Rachel Mandelbaum und wischte ihr den Schweiß von der Stirn. Er gab ihr Wasser zu trinken und hielt ihre Hand und flüsterte ihr beruhigende Worte zu, bei denen er selbst nicht wusste, ob er sie glauben sollte. Rachel Mandelbaums Wehen folgten immer rascher aufeinander, und sie umklammerte Jakob Markowitz’ Finger mit solcher Kraft, dass er fürchtete, sie könnten brechen. Trotzdem zog er seine Hand nicht weg und sagte nur: »Pressen, pressen«, denn er erinnerte sich an die Stimme der Hebamme, die seine Mutter einst im Nebenzimmer betreut hatte, und erinnerte sich an die Anspannung im Gesicht seines Vaters, der mit ihm im Wohnzimmer wartete, und erinnerte sich an die grauenhafte Stille, die das Haus erfüllte, als seine Mutter fertig gepresst hatte und das Kind draußen war, aber kein Weinen einsetzte. Vielleicht hätte Jakob Markowitz ein wenig verweilt bei dieser Erinnerung oder bei der Erinnerung an den Abend danach, als es stumm im Haus war und sein Vater begann, sich von seiner Mutter wegzustehlen, und seine Mutter sich aus dem Leben selbst stahl, aber Rachel Mandelbaums Schreie nagelten ihn in der Gegenwart fest und ließen seine Gedanken nicht abschweifen. Jetzt schrie sie aus vollem Hals, und Jakob Markowitz hoffte, in den Häusern des Dorfes würde jemand die Ohren spitzen und sagen: »Schnell, in die Felder!«, aber die Häuser des Dorfes schwirrten von Schnalzen und Nuscheln und Sticheln und
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