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Eine Nacht, Markowitz

Eine Nacht, Markowitz

Titel: Eine Nacht, Markowitz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ayelet Gundar-Goshen
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sagte kein Wort. Wenn Abraham Mandelbaum seine Trauer an dem Baum auslassen wollte, würde er ihn nicht daran hindern.
    »Nimm ihn einen Augenblick.« Wieder hielt Jakob Markowitz das Menschenjunge, während Abraham Mandelbaum zum Johannisbrotbaum trat. Der Schächter untersuchte die Erde rund um den Stamm, die Stelle, an der die Disteln unter dem Gewicht seiner gebärenden Frau umgeknickt waren. Mit seiner großen Pranke betastete er die raue Rinde des Baums. »Allein«, sagte er, »ganz allein.« Und dann hieb er mit geballten Fäusten auf den Johannisbrotbaum ein. Schlug erbarmungslos. Die Äste des Baums zitterten alle, es zitterte auch Jakob Markowitz. Beim zehnten Schlag fielen mit einem Mal alle Früchte ab, ein Regen von Johannisbroten prasselte Abraham Mandelbaum auf den Kopf. Der Schächter schlug weiter mit den nun schon blutroten Fäusten, schlug und trat und warf seinen Leib gegen den Stamm. Erst, als der Baum umstürzte, der Stamm splitterte und die Wurzeln sich entblößten, hörte Abraham Mandelbaum endlich auf, die schmachvolle Einsamkeit seiner Frau zu rächen. Er wischte sich die Hände an den Hosenbeinen ab und wollte schon seinen Sohn wieder übernehmen, beließ ihn dann aber doch in Markowitz’ Armen. Sie gingen denselben Weg zurück, den sie gekommen waren.

12
    Z wei geschlagene Jahre lebte Bella Markowitz bereits im Haus des Dichters. Einige Tage nach ihrer ersten Begegnung hatte sie sich an den Geruch nach gehackter Leber gewöhnt, spürte ihn nur noch, wenn sie in Streit gerieten. Jeden Morgen, wenn der Dichter zur Arbeit gegangen war, packte Bella all ihre Kleider in die Tasche und schickte sich an, das Haus zu verlassen. Mal machte sie die Tür auf und ging ein Stück die Treppe hinunter, mal sogar bis ans Ende der Straße. Und zuweilen tat sie nicht mal das, blieb nur ein paar Minuten vor der geschlossenen Tür stehen, ehe sie kehrtmachte und ihre Tasche wieder auspackte.
    Der Dichter ahnte nichts von diesem morgendlichen Ritual. Kam er von seiner Arbeit in der Zeitungsredaktion zurück, wo er den Tag überwiegend mit dem Verfassen von Nachrufen und einer gelegentlichen Glückwunschanzeige verbrachte, fand er Bella frisch und duftend vor. Er führte sie ins Café oder ins Kino aus, flanierte mit ihr über die Boulevards und fand sich sogar gelegentlich zum Tanzen bereit. Das hasste er zwar, aber er liebte die Blicke der Mitmenschen, wenn sie einen Mann wie ihn mit einer Frau wie ihr tanzen sahen. Doch eines Tages erkannte er die Diskrepanz zwischen ihrem Frohsinn am Abend und ihrer Trübsal am Tag. Es war an einem jener Morgen im Monat Februar, wenn die Gebäude entlang der Straße vor lauter Kälte zusammenrücken. Der Dichter, der beim Verlassen der Wohnung auf ein leichtes Jackett und seine Liebesglut vertraut hatte, um seine Körperwärme zu erhalten, merkte schnell, dass die Glut erloschen war und seine Schultern zitterten. Er machte an der Straßenecke kehrt und ging nach Hause, wo er sich in einen warmen Mantel und eine weitere Umarmung seiner Geliebten zu hüllen gedachte. Als er das Haus fast erreicht hatte, sah er Bella mit bewölktem Blick im Eingang stehen, ihre Habseligkeiten in Händen. Der Dichter erstarrte auf dem Fleck. Der Mensch in ihm wollte losstürmen, zu ihr laufen, sie auf Knien anflehen zu bleiben. Doch der Künstler in ihm befahl, still zu beobachten, sich ihre Gesichtszüge am Tag ihres Weggangs einzuprägen, ein Gesicht, das sich des schauenden Auges gar nicht bewusst war, ein Gesicht, das er bis zum Tag seines Todes würde besingen können. Während der Mensch und der Künstler noch in seiner Seele rangen, drehte Bella sich um und kehrte ins Haus zurück, und der Dichter ging zur Arbeit, verwirrt und wehmütig und halb erfroren.
    Von nun an schrieb er wieder Lyrik. Jetzt beschäftigte er sich nicht mehr mit der nationalen Wiedergeburt der Juden, besang nicht den landwirtschaftlichen Ertrag oder die Schönheiten des Landes. Seine Gedichte, schlicht, schnörkellos, berührend, befassten sich allesamt mit dem möglichen Weggang einer Frau aus einem Haus. Es war keine große Dichtung, weit entfernt davon, aber es war auch keine schlechte Dichtung, und das war das Neue daran. Der Tag, an dem der Dichter Bella auf der Schwelle des Hauses gesehen hatte, war der Tag, an dem er sich von einem gescheiterten Dichter in einen mittelmäßigen Dichter verwandelte. Seinerzeit gab es im Land mehr als genug große Dichter, und auch an schlechten Dichtern herrschte kein

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