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Eine Nacht, Markowitz

Eine Nacht, Markowitz

Titel: Eine Nacht, Markowitz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ayelet Gundar-Goshen
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Mangel. Den großen huldigte man, den schlechten spendete man Mitgefühl. Doch über den mittelmäßigen Dichter freuten sich alle sehr. Man druckte seine Gedichte in den Zeitungen, wies seine Bücher jedoch bei den Verlagen ab. Man lud ihn ein, bei unwichtigen Konferenzen Grußworte zu sprechen, wohl wissend, niemals eine Grünanlage nach ihm benennen zu müssen, allerhöchstens eine Parkbank.
    Bella las die Gedichte des Dichters nicht. Seit dem Tag, an dem sie die Orangenschnitze probiert hatte, war ihr der Glaube an Worte abhandengekommen. Früher hatte sie Dichter geliebt, weil sie glaubte, es stünde in ihrer Macht, sich eine Welt nach Belieben zu erschaffen. Doch diese Welten waren, wie sie jetzt wusste, nichts als kugelrunde Seifenblasen, gleich denen, die sich im Wasser bildeten, wenn sie die Wäsche des Dichters im Waschbecken rubbelte. Herrliche, bunte Blasen, in denen der Körper sich gern wiegen wollte, nur platzten sie sogleich, und nichts blieb übrig als dreckige Socken und ein Hemd, das es zu scheuern galt.
    Frauen suchten nun die Nähe des Dichters. Schöne Frauen. Hatten sie seine früheren Gedichte, die zionistischen Verse über die Erlösung des Landes, gleichgültig aufgenommen, so lasen sie seine Gedichte für die Geliebte nun durch Tränenschleier. Die Gedichte sprachen ihr Innerstes an – ihr Verlangen, eines Tages selbst Liebesobjekt eines Dichters zu werden. Bella spürte das, wenn sie gegen Abend Hand in Hand mit dem Dichter spazieren ging. Jetzt wartete er nicht mehr sehnlich auf ihr Lächeln, sondern spendete seines freigiebig, versenkte seine Augen nicht mehr in ihre, sondern ließ sie umherschweifen, von der Rotblonden zur Schwarzhaarigen, von der Schwarzhaarigen zur Vollbusigen. Als sie eines Abends in die Wohnung des Dichters zurückkehrten, befiel Bella eine Übelkeit, die auch am Morgen noch anhielt. An diesem Tag packte sie nicht ihre Sachen, sondern kauerte vor der Kloschüssel und wurde von einem Brechanfall nach dem anderen überwältigt. Sie erbrach den Kuchen, den sie gestern im Café gegessen hatte, und die Blicke der Frauen, die ihr beim Essen dieses Kuchens zugeschaut hatten. Sie erbrach den hebräischen Dichter, der jetzt lieber über ihren Weggang schrieb, als mit ihr zusammen war. Sie erbrach all die Orangenschnitze, die sie in Europa gegessen hatte, ohne ihren Geschmack wahrzunehmen, weil ihre Zunge nur die Erwartung auf das Herkunftsland dieser Orangen schmeckte. Und sie erbrach das Land selbst, halb verdaute Essensbrocken, Chamsin und Sand und Schäbigkeit und vergebliche Hoffnungen.
    Als Bella sich ausgekotzt hatte, legte sie sich ins Bett, so leicht wie ein Vogel. Sogar das Brennen in der Speiseröhre empfand sie als angenehm. Jetzt wusste sie, dass sie frei war, gehen konnte, wohin sie nur wollte. Sollte Jakob Markowitz in seinem Haus in der Moschawa versauern, sie selbst würde hier leben, in Tel Aviv. Noch heute würde sie den treulosen Dichter verlassen und sich einen wahren Liebhaber suchen. Einen einfachen und guten Menschen, der nichts mit Lyrik anfangen konnte, aber mit beiden Beinen fest auf der Erde stand. Einen Arzt. Vielleicht einen Beamten. Einen fortschrittlichen Mann, dem die Ehe nichts bedeutete. Und sie beschloss auch, sich am Lehrerseminar einzuschreiben, die Kinder Israels dazu zu erziehen, der Gemeinheit und Treulosigkeit nicht nachzugeben, die den Männern dieses Landes offenbar innewohnten. Die Kinder würden sie schüchtern und bewundernd mit »Frau Lehrerin« anreden, und sie würde ihnen alles beibringen, was sie wissen mussten. Mathematik, Geschichte, Erdkunde. Das Hochgebirge des Himalajas und die Geschichte der Juden im Königreich Spanien. Die Winkelsumme des Dreiecks und den Aufbau der Blüte. Nur in Lyrik würde sie sie nicht unterrichten. Nicht mal auf ausdrücklichen Wunsch. Der Trug der Worte war zu gefährlich für Jugendliche. Sie würden ihr mit Respekt begegnen, und sie würde nie die Hand gegen sie erheben. Wenn sie mit dem Arzt oder dem Beamten auf der Straße ginge, würden die Mütter ihrer Schüler sie ansprechen und ihr dankbar die Hand drücken.
    Leicht wie ein Vogel, außer dem leichten Brennen in der Speiseröhre, lag Bella Markowitz auf dem Rücken und schmiedete Pläne, ohne zu ahnen, dass sie auch am nächsten Morgen über der Kloschüssel hängen würde und am übernächsten. Erst nach fast zwei Wochen mit Übelkeit und Erbrechen begriff sie, dass das keine Methode der Seele war, sich von ihrer Vergangenheit zu

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