Eine Nacht, Markowitz
Schritte, ihre Waden waren schlank und ihre Schultern gerade. Jakob Markowitz arbeitete weiter.
Als er die Haustür öffnete, sah er sie. Voller, gebeugter, und doch – die schönste Frau, die er je gesehen hatte. Ihre Schönheit wirkte auf ihn, wie damals in der Wohnung in Europa, als sie sich vom Fenster umgedreht und er sie zum ersten Mal gesehen hatte. Wieder erstarrte er auf der Stelle, wieder hatte er das Gefühl, jemand hätte alle Splitter seiner Träume aufgelesen und sie zu dem Ganzen zusammengefügt, das jetzt vor ihm stand. Volle Lippen wie eine zum Bersten reife Feige, eine kleine, energische Nase, Brauen so gerundet wie die Bogenfenster der Moscheen. Dazu diese Augen, die ihn jetzt mit unübersehbarer Abscheu ansahen und ihn doch mit Leben erfüllten.
»Du bist zurück.«
Bellas gerundete Brauen hoben sich ein wenig, als wollten sie sagen, ihre Wiederkehr sei offensichtlich und bedürfe keiner weiteren Erwähnung. Jakob Markowitz stand immer noch an der Türschwelle, und Bella saß auf dem Sofa und stickte. Unwillkürlich fühlte Markowitz sich fremd im eigenen Haus, als sei er ein ungebetener Gast, der die Ruhe der Hausbesitzer störte. Deshalb trat er einen Schritt vorwärts und begann von Neuem, in einem Ton, von dem er hoffte, er würde energisch klingen: »Du hast einen langen Weg hinter dir. Ich mach dir was zu essen.« Bella Markowitz gab keine Antwort, und Jakob Markowitz eilte in die Küche. Er machte Tee und schnitt Brot auf, und nach kurzem Zögern schälte er eine Orange und legte sie dazu. Einen Moment lang, als er so in der Küche stand, das Glas Tee in der einen Hand, den Teller mit Brot und Käse und Orangenschnitzen in der anderen, dachte Jakob Markowitz, nun würde alles gut werden.
Als er ins Wohnzimmer zurückkam, fand er es leer vor. Bella Markowitz hatte ihr Stickzeug genommen und war gegangen. Zuerst fürchtete er, sie könnte ihn wieder verlassen haben, doch dann sah er ihre Habseligkeiten im Schlafzimmer und daneben einen Zettel. »Von nun an schläfst du wieder auf dem Sofa im Wohnzimmer. Das Hemd kannst du mitnehmen.«
Jakob Markowitz brauchte nicht lange zu warten, bis er erfuhr, wo Bella hingegangen war. Seev Feinbergs überraschter Ausruf schallte durchs ganze Dorf: »Du bist zurück!« Nicht nur Freude lag in diesem Ausruf, sondern auch eine Frage, die keiner zu stellen wagte, weder Markowitz noch Feinberg, der eine allein im Wohnzimmer, der andere an der Haustür, als er Bella umarmte und rief: »Sonia, guck mal, wer da ist!« Sonia erriet den Grund ihrer Rückkehr auf den ersten Blick. Nicht der Leib, der sein Geheimnis noch hütete, sondern die Augen erzählten es ihr. Bellas Augen, die Sonias in allem glichen, nur dass sie genau so viel näher zusammenstanden, wie es das gängige Schönheitsideal verlangte, bargen jetzt noch etwas. Es war nicht Zärtlichkeit oder Süße oder all das, was man in den Augen schwangerer Frauen finden möchte. Im Gegenteil: In Bellas Augen lag jetzt ein harter und entschlossener Zug, das Wissen darum, dass die Existenz eines weiteren Menschen von ihr abhing. Diese Erkenntnis war ihr in Ansätzen auf dem Weg zur Moschawa gekommen und bei ihrer Ankunft bereits in Fleisch und Blut übergegangen. Ein weiterer Mensch brauchte sie zum Überleben, ein geheimes Menschenkind, von dem noch keiner wusste außer ihr, ein Baby. Dieses Wort gefiel ihr so gut, dass sie es immer wieder auf der Zunge rollte, auf dem ganzen Weg ins Dorf probierte, gar nicht genug davon bekommen konnte, in der Hoffnung, die Süße des Wortes würde über alles andere hinwegtrösten. Sonia schloss Bella fest in die Arme und flüsterte: »Herzlichen Glückwunsch.« Im ersten Moment erschrak Bella, ihr Geheimnis sei vielleicht doch nicht so verborgen wie gedacht, aber sofort beruhigte sie sich damit, dass Sonias Augen nicht denen anderer Menschen glichen.
An jenem Abend blieb Bella bis spät bei Sonia und Seev Feinberg. Die Freude an dem Zusammensein mit den Freunden mischte sich mit der Angst vor dem Moment, in dem sie in Markowitz’ Haus zurückgehen musste. Deshalb blieb sie auf dem Sofa sitzen, lauschte angeregt Seev Feinbergs Geschichten (über ein Krokodil im Alexanderbach, das beinah ein dreijähriges Kind aufgefressen hätte, wenn er nicht mit bloßen Händen auf das Reptil losgegangen wäre), lächelte über Sonias Berichtigungen (nicht mit bloßen Händen, sondern mit einem Gewehr, kein Kind von drei Jahren, sondern ein Mann von dreißig, und kein Krokodil,
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