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Eine Nacht, Markowitz

Eine Nacht, Markowitz

Titel: Eine Nacht, Markowitz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ayelet Gundar-Goshen
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Tier, das sich als ihr Ehemann verkleidet hatte. So gern Sonia wieder ins Bett gegangen wäre und den Mann geküsst hätte, der sich in Albträumen wälzte, die Füße versagten ihr den Dienst. In ihrer Kindheit hatte sie einmal, am Ufer eines blauen Sees, einen Ertrinkenden mit den Armen im Wasser fuchteln gesehen. Die Frauen am Ufer hatten geschrien, und ein Mann war in voller Kleidung hineingerannt. Doch als er den Ertrinkenden erreichte, den er ans sichere Ufer zu bringen hoffte, wurde er selbst in die Tiefe gerissen. Der Zugriff des Ertrinkenden war stärker als der des Retters – und sein Grauen sehr groß. Im Bemühen, auf dem Leib seines Gefährten an die ersehnte Luft zu kriechen, ertränkte er den, der ihn hatte retten wollen. Ihre Leichen wurden knapp eine Woche später gefunden. Selbst die Witwen erkannten kaum, wer der beiden verwesenden Fleischklumpen der Ertrinkende und wer der Retter gewesen war. Seitdem waren viele Jahre vergangen. Nicht an einem blauen See stand Sonia jetzt, sondern vor weißen Baumwolllaken. Und trotzdem traute sie sich nicht, dem Mann in den Laken die Hand zu reichen, um nicht etwa hinter Seev Feinberg in die Tiefe gerissen zu werden.
    Sonia schämte sich selbst ihrer Feigheit, und je mehr sie sich schämte, desto größer wurde die Angst. Da sie Angst hatte, mit Seev Feinberg über sein Geheimnis zu sprechen, versuchte sie mit ihm über andere Dinge zu reden. Es gab ja noch die Sonne und ein zerbrochenes Stuhlbein und Zeitungen. Aber bald merkte Sonia, dass sie auch darüber nicht sprechen konnte. Von Tag zu Tag wuchs Seev Feinbergs Geheimnis. Schließlich war es so aufgebläht, dass es die Sonnenstrahlen ausblendete. Sein Schatten bedeckte Seev Feinbergs und Sonias Haus. Man konnte nichts mehr sehen. Man konnte nichts mehr sagen. Das Geheimnis lauerte hinter jedem Satz, jedem Wort. Wollte Seev Feinberg zum Beispiel sagen: »Weißt du, es wird bald Frühling«, dann konnte es doch immer noch sein, dass er stattdessen sagte: »Ich habe eine Frau und ein Kind umgebracht, und die Frau hat den Boden umarmt und das Kind die Mutter.« Deshalb schwieg er. So schwieg auch Sonia. Und Jair, in dessen Alter andere Kinder schon ihre ersten Worte aufschnappten, sah seine Eltern an und schwieg ebenfalls.

3
    J akob Markowitz ahnte nichts von Seev Feinbergs Schicksal seit dem Tag, an dem sie sich auf der Straße begegnet waren. Ihn selbst hatte man ein paar Wochen später in die Berge Galiläas abkommandiert. Er hatte sich nicht ohne Weiteres auf den Weg gemacht. Seine Vorgesetzten mussten sein Haus aufsuchen, laut pochend diesen komischen Mann und seine bildschöne Frau wecken und ihn auffordern, sich anzuziehen und endlich mitzukommen, um seine Pflicht zu tun. Sie konnten sich noch so anstrengen, Jakob Markowitz’ verschlafenes Gesicht zu fixieren – ihre Augen schweiften unweigerlich zu dem herrlichen Wesen neben ihm, das Bella Markowitz war. Auch wenn sie ein Baby am Hals hängen hatte, glänzten ihre Augen im Halbdämmern, und ihr goldenes Haar saß auf dem Kopf hochgebunden wie ein Bündel Weizenähren. Notgedrungen wandten sie den Blick wieder Jakob Markowitz zu und ranzten ihn an: »Was ist denn, warum gehst du nicht?«, obwohl sie die Antwort klar vor Augen sahen. Wegen dieser Frau, die an seiner Seite stand, ging er nicht. Wegen dieser Frau, die ihn um einen halben Kopf überragte, ihm keinen einzigen Blick zuwarf, als er sich sperrte, auch seine Vorgesetzten keines Blickes würdigte, als sie die Stimme gegen ihren Mann erhoben, diese Frau, deren Augen fern in die Nacht blickten, als lausche sie hier keiner Debatte über Leben und Tod, sondern dem Gesang der Kröten.
    Schließlich drohten ihm die Vorgesetzten, das Haus zu beschlagnahmen. Dieses Stück Land, das Jakob Markowitz vor vielen Jahren erhalten hatte, sei nicht für Fahnenflüchtige gedacht. Die guten Leute da oben hätten es hebräischen Händen anvertraut, auf dass es hebräische Gewächse trage. Und hebräische Hände könnten gelegentlich aufgefordert sein, die Hacke niederzulegen und das Gewehr zu ergreifen. Jakob Markowitz hörte zu und sagte: »Die ganzen Jahre habe ich Weintrauben und Oliven und manchmal auch Aprikosen kultiviert. Mal wurden die Früchte am Baum süß, mal bitter. Mal blieben sie unreif, mal fraßen die Würmer sie. Aber niemals in all den Jahren habe ich ein hebräisches Gewächs unter meinen Händen gedeihen sehen. Die Olive blieb eine Olive. Der Weinstock konnte nichts anderes sein als ein

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