Eine Nacht, Markowitz
Feinberg in seiner Rede inne und sah Jakob Markowitz fragend an. Krieg. Dieses Wort war ihm vor lauter Stoffwindeln, Warmwassereimern und Wiegenliedern beinah abhandengekommen. Seit Jairs Geburt war der süßliche Geruch von Muttermilch in Sonias Orangenduft eingesickert. Seev Feinberg wandelte wie berauscht durch die Zimmer, sog das Gemisch in tiefen Atemzügen ein und fühlte sich im Innersten versüßt. Die typische Blindheit der Menschen verführt sie dazu, sich in anderen wiederzuerkennen. So meint eine streitsüchtige Frau, auch in liebenden Augen Spott zu sehen. Und ein Mann, dessen Herz unter dem wohltuenden Einfluss von Orangen- und Muttermilchdüften butterweich geworden ist, glaubt irrigerweise, auch die Herzen anderer seien voll Butter. Aber dem ist nicht so. Während Seev Feinberg ein ums andere Mal Jairs Fingerchen zählte, zählten andere die Patronen in ihren Patronentaschen. Während er ihm roten Granatapfelsaft auspresste, übten manche sich darin, ganz andere Granaten zu werfen, die den Menschen in Fetzen von Fruchtkerngröße zerreißen. Seev Feinberg sah das nicht, denn er war blind in seiner Liebe, und auch als Jakob Markowitz ihn nun auf seinen Irrtum aufmerksam machte, fand er nichts anderes zu sagen als: »Was für eine Verschwendung.« Natürlich fasste er sich gleich wieder, schnallte seine Waffe um und tötete jede Menge Araber, aber während Schießpulver und verkohlte Leichen Seev Feinbergs Nase vergebens bestürmten, atmete er ständig den Geruch von Milch und Orangen und fühlte sich innerlich versüßt.
2
K ann der Mensch tatsächlich einen ganzen Krieg mit glatter und reiner Seele und gutem Schlaf überstehen? Die eine oder andere Schramme am Körper, aber das Herz völlig unversehrt? Natürlich gibt es Präzedenzfälle in der Literatur. Beim Auszug der Kinder Israels aus Ägypten klangen ihnen die Wehklagen von Millionen ägyptischer Mütter in den Ohren, aber ihre Füße nässte kein einziger Tropfen Salzwasser, weder vom Meer noch von den Tränen der Mütter. Das Meer teilte sich, und sie schritten knochentrocken hindurch, keiner blieb stehen, um einen auf dem Boden zappelnden violetten Fisch aufzuheben und wieder ins sichere Wasser zu werfen. Seev Feinberg ging mit starken Beinen über die Schlachtfelder, und seine Augen blieben auch dann geschlossen, wenn sie durchs Visier seines Gewehrs blickten. Vielleicht schoss er deshalb nie daneben.
In einer dunstigen Mainacht, einige Monate nach seiner Begegnung mit Jakob Markowitz, stand Seev Feinberg auf seinem Wachposten im Norden und starrte ins Dunkel. Wenn wir genau sein wollen, müssen wir gestehen, dass Seev Feinberg nur die Hälfte seiner Sehkraft auf die Wache verwendete, denn die andere Hälfte war der genauen Beobachtung von Jairs Gesicht gewidmet, während Sonia ihn in den Schlaf wiegte. Geteilte Sehkraft tut der Wahrnehmungsfähigkeit des Wächters nicht gut, und deshalb nimmt es nicht wunder, dass Seev Feinberg erst nach geraumer Zeit die Gestalt entdeckte, die sich von der arabischen Ortschaft her näherte.
Als er den Feldstecher fester an die Augen drückte, sah er trotz des Dunstes, wie der junge Mann dort in der Ferne sich von Baum zu Baum stahl und ständig nach links und rechts schaute. Immer wieder fasste der Mann nach hinten an seinen Rucksack, ob er auch richtig auf seinem Rücken saß. Angesichts des dicken Rucksacks verharrte Seev Feinberg angespannt. Der trug sicher einen Sprengsatz, vielleicht um ihn an die Brücke zu legen. Wenn Menschen einander bekämpfen, kennt das ganze Land ja keine Ruhe: Bäume wurden gefällt, Brücken flogen in die Luft und regneten in einem Hagel kleiner Steine wieder herab, der allerlei Kriechtieren höchst abträglich war. Stachelschweine und Schakale wurden gelegentlich für Menschen gehalten und bekamen Kugeln ab, die zweifellos nicht ihnen gegolten hatten. Andernorts färbte Blut das Gras schwarz, und Blumen knickten unter der Last der Leichen. Ja, der Krieg ist keine sonderlich angenehme Angelegenheit, und der junge Araber, der sich mit dem Sprengsatz auf dem Rücken anschlich, sollte das bald erfahren, denn Seev Feinberg spannte sein Gewehr. Als Seev Feinberg das Gewehr auf den Feind im Dunkeln anlegte, fühlte er nichts als sehnliche Erwartung, die Lider wieder auf ein für seinen Wachdienst notwendiges Minimum verengen zu können, um erneut das Gesicht seines Sohnes zu bewundern. Dann fiel der Schuss, und danach zerriss das Weinen des Babys die Nacht, und Seev Feinberg
Weitere Kostenlose Bücher