Eine Nacht, Markowitz
Ferne erreichten ihn die Schreie seiner Vorgesetzten, die Rufe seiner Kameraden, die Einschläge der Granaten. Sie alle wurden immer schwächer, sodass er bald ihre Echtheit anzweifelte, denn jeder Laut, der nicht Bellas Stimme war, klang ihm jetzt trügerisch. Deshalb entglitt Markowitz nach und nach der Welt. Selbst wenn man ihn anbrüllte und ihm in die Ohren schrie und ihn an den Schultern rüttelte, wälzte er nur im Geist, was er Bella schreiben würde, wenn der Tag zu Ende ging.
Alle Tage, die Jakob Markowitz auf den Schlachtfeldern in Galiläa verbrachte, verbrachte Bella Markowitz auf den Schlachtfeldern der Moschawa. Der Feind setzte zwar keinen Fuß auf die Schwelle der Häuser, nicht einmal in die Plantagen kam er, aber Nachbarsstreitigkeiten schlugen mehr als genug aufs Gemüt. Die Frauen waren müde, besorgt und verärgert, und die Kinder waren nichts als Spiegelbilder ihrer Mütter. Jede Kleinigkeit brachte sie zum Weinen, und wenn erst ein Kind anfing, steckte sein Weinen schnell alle anderen an, griff von einem Kind auf das nächste über, wie eine Pockenepidemie. In den ersten Kriegstagen fühlten sich die Frauen noch als Schicksalsgemeinschaft, die sie einte und jeden kleinen Streit ausbügelte. Doch im Lauf der Wochen verschanzte sich jede Frau in ihrem eigenen Elend, häufte Sorgen und Ängste und Einwände wie Backsteine aufeinander.
»Nicht zu glauben, dass sie ausgerechnet jetzt Aprikosenmarmelade kocht.«
»Man riecht es ja von Weitem.«
»Und anderen was anzubieten, fällt ihr nicht ein.«
Aber als Bella dann von Haus zu Haus ging und den Frauen etwas von ihrer Marmelade anbot, wollte keine was annehmen. Es gab dieses Jahr zwar nur wenig Aprikosen, und der Duft des Eingekochten machte einem den Mund wässrig, aber Bella Markowitz’ Marmelade würden sie nicht anrühren. Denn seit dem Moment, in dem Jakob Markowitz sein Haus verlassen hatte, war bei Bella eine unverkennbare Veränderung eingetreten. Ihre Freude war zu auffällig, schrie zum Himmel. Ihr goldenes Haar blendete die Kinder, ihre Augen blitzten so leidenschaftlich, dass sie gelegentlich Truppen in der Ferne täuschten, die sie für wichtige Feuersignale hielten. Und schlimmer noch – sie sang. Solange sie noch den Mund gehalten hatte, hatten die Frauen Bella Markowitz ihre empörende Schönheit vergeben können, die sie sich schließlich nicht ausgesucht hatte. Aber als sie Lieder schmetterte, war unübersehbar, dass Bella Markowitz aufblühte, schlicht und einfach. Zum ersten Mal in ihrem Leben entsprang ihre Schönheit nicht dem Auge eines außenstehenden Beobachters, sondern ihrem eigenen Empfinden. Das konnten die Frauen ihr nicht verzeihen. Unter Männerblicken strahlen war eines, aus eigenem Willen strahlen etwas ganz anderes. Bella Markowitz’ Schönheit befleckte die ganze Moschawa.
Was wünscht sich ein Mann, der ins Gefecht zieht? Dass die Welt stehen bleibt. Für einen Menschen, der mit eigenen Händen seine Kameraden begraben hat, ist das ruhige Sprießen des Getreides wie eine Ladung Speichel ins Gesicht. Ganz zu schweigen von Teppichen roter Anemonen. Die Erde der Moschawa hätte gefälligst ihren Schoß verschließen und auf die Rückkehr ihrer Besitzer warten sollen. Aber die Bäume trugen weiter Frucht, und die Anemonen erblühten rot, und das Getreide wuchs stetig. Bella Markowitz sah all das, mit einem selbst gereimten Lied auf den Lippen. An Jakob Markowitz dachte sie selten. Das Haus änderte zusehends sein Gesicht. Selbst seine persönlichsten Gegenstände – Jabotinskys Schriften zum Beispiel – befreiten sich schrittweise vom beklemmenden Druck ihres Eigentümers. Manchmal, wenn Zwi Sandburgen baute, schweiften Bellas Gedanken in die kommenden Tage und Wochen. Dann fragte sie sich, ob wohl alle Tage so wie diese werden könnten, ob der Gefängniswärter wirklich auf Nimmerwiedersehen gegangen war. Ob sie in diesen Mauern bleiben würde, in dem Gefängnis, das sich in ein Haus verwandelt hatte, und ob sie dieses Kind in wohltuender und glänzender Einsamkeit aufziehen könnte.
Aber Jakob Markowitz’ Briefe trafen weiter ein. Manchmal waren sie so sentimental, dass Bella sich gleich nach der Lektüre die Hände waschen musste, damit sie nicht klebrig wurden. Ein oder zwei Mal bekam sie einen Lachanfall bei einer besonders abgedroschenen Phrase. Bella fühlte sich deswegen schuldig, hätte sich aber gewiss verziehen, wenn sie geahnt hätte, wie nachsichtig sie im Vergleich zu den Kameraden ihres
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