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Eine Nacht, Markowitz

Eine Nacht, Markowitz

Titel: Eine Nacht, Markowitz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ayelet Gundar-Goshen
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ließ die Waffe fallen.
    Sie war sechzehn Jahre alt. Vielleicht weniger. Die flache Brust und der knabenhafte Körper hatten ihn verleitet, sie für einen Mann zu halten. Auf ihrem Rücken, in einer Decke, hatte sie das Kind getragen, das ihm fälschlich als Sprengsatz erschienen war. Seev Feinberg stand vor ihnen, außer Atem vom Laufen. Seit das Weinen des Babys ihn veranlasst hatte, von seinem Posten weg zu der niedergestreckten Gestalt zu rennen, hatte er die Stimme des Kindes nicht mehr gehört. Von fern erreichte ihn das Tuscheln der Soldaten und des Befehlshabers, die auf ihn zukamen. Sie gingen langsam, ohne Eile. Das, was sich gleich ihren Augen bieten sollte, war nichts, dem sie entgegenfieberten. Seev Feinberg kniete neben der Leiche des Mädchens nieder. Sie lag mit dem Gesicht auf der Erde, die Arme abgespreizt. Aus der Decke auf ihrem Rücken lugten die Hände des Babys. Und einen Augenblick, einen gütigen Augenblick lang, meinte Seev Feinberg, eine Regung in den Fingern des Kindes zu sehen. Dann ging der Mond auf, und der dunkle Kreis auf der Decke, dort, wo Seev Feinbergs Kugel erst das Baby und dann die Mutter durchbohrt hatte, war nicht mehr zu übersehen. Das Land trug das tote Mädchen auf dem Rücken, und das tote Mädchen trug das tote Kind auf dem Rücken, und beider Arme lagen seitlich ausgestreckt auf dem Rücken, der sie trug, zehn große und zehn kleine Finger. Die Lehmerde war feucht und rot, und das Blut von Mutter und Kind war feucht und rot und noch warm, und Seev Feinbergs Tränen waren groß und warm.
    Ein paar Wochen später wurde Seev Feinberg nach Hause geschickt. Nicht mehr kriegstauglich. Wo immer er ging, roch er saure Muttermilch und verfaulte Orangen, und das so penetrant, dass er all seine Kleider in Brand stecken musste, um die Gerüche zu vertreiben. Seine Untergebenen löschten hastig das Feuer, aber er zündete es immer von Neuem an, fünf Mal nacheinander. Schließlich gab der Oberbefehlshaber Anweisung, Seev Feinberg gewähren zu lassen. Vielleicht dachte sich der Offizier, wenn alle Kleider verbrannt wären, würde Seev Feinbergs Seele Ruhe finden. Aber es liegt in der Natur des Geistes, sich auch dann noch an seinen Schmerz zu klammern, wenn die Materie zu Asche verfällt. Der Geruch nach saurer Milch und faulen Orangen wurde nur immer stärker, immer schärfer. Nun drang er auch in Seev Feinbergs Schlaf. Immer wieder wachte er schreiend auf, weil er sich in warmer, eitriger Muttermilch ertrinken sah. Bald schlief Seev Feinberg gar nicht mehr, aus Grauen vor seinen Träumen. Um sich wach zu halten und vor allem, um endlich den schrecklichen Geruch von der Haut zu kriegen, wusch er sich unaufhörlich das Gesicht. Er schrubbte es mit kaltem und heißem Wasser, scheuerte es mit Blättern und später mit Steinen. Seine Haut blätterte ab, aber Seev Feinberg hörte nicht auf. Im Gegenteil. Wann immer er sich einen weiteren trockenen Hautfetzen wie Geschenkpapier von der Nase abzog, hoffte er, jetzt gleich, wenn er nur noch ein klein wenig weiterrubbelte, würde er endlich die saure Milch und das Gesicht des namenlosen Kindes zum Verschwinden bringen.
    Als Sonia Seev Feinberg heimkommen sah, hallte ihr Aufschrei durchs ganze Dorf. Nicht wegen seines Äußeren schrie Sonia, obwohl sein Gesicht vor lauter Scheuern und Schälen eine einzige offene Wunde war. Auch nicht wegen seines Geruchs, obwohl er sich auf dem Heimweg in allem, was er fand, gewälzt hatte, nur um die Orangenfäule und Milchsäure loszuwerden. Es war wegen seiner Augen. Die vertrauensvollen, blauen Augen sahen jetzt aus, als hätte jemand Säure hineingeträufelt. Seev Feinberg blickte Sonia an, ohne sie zu sehen, und seinen Sohn wollte er überhaupt nicht anschauen. Vielleicht fürchtete er, die Unschuld des Kindes durch seinen Blick zu besudeln.
    Seev Feinberg erzählte Sonia nichts von der Kugel, die das Baby und seine Mutter durchbohrt hatte. Und Sonia fragte nicht. Zuerst sagte sie sich, es sei wegen Seev Feinberg, zu seinem eigenen Wohl. Vielleicht würde die Wunde so verheilen. Aber als der Schlaf die Fesseln seiner Zunge löste und er anfing, in seinen Albträumen zu murmeln, hielt Sonia sich mit bebenden Händen die Ohren zu. Sie wollte nichts hören. Seev Feinberg schrie im Schlaf, und Sonia hastete leise aus dem Haus. Am Himmel standen Myriaden von Sternen, und sie alle waren Zeugen ihrer Flucht. Trotzdem brachte sie es nicht über sich, wieder hineinzugehen. In ihrem Bett lag ein verwundetes

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