Eine Nacht, Markowitz
Worten schmähte, dass die Meeresgischt vor Scham errötete. Er versuchte zu erraten, welche Wörter sie aussuchen würde, diese geliebte Dämonin, überlegte sich allerlei Grobheiten und Flüche, die ihm den Schnauzer kitzelten. Seev Feinberg stellte sich Sonias zornglühende Augen vor und kicherte. Dann rechnete er aus, wie weit das Meer entfernt lag, über das er zu ihr heimkehren könnte, und wurde trübsinnig. Und die ganze Fahrt über beobachteten seine Kameraden mit Bewunderung und Angst, wie er am Steuer Deutschlands Erde versengte.
Nur einer im Kommando hatte keine Angst vor Feinbergs rasantem Fahrstil. Janosz war ein kleiner, schmaler Mann um die dreißig. Äußerlich glich er am ehesten einem Bankangestellten. Einen Familiennamen hatte er nicht. Fragte man ihn danach, antwortete er, die Nazis hätten seine ganze Familie ermordet, und ohne Familie gäbe es auch keinen Familiennamen. Die anderen Männer widersprachen – auch wenn die Familie ausgelöscht sei, bliebe doch der Name. Zum Gedenken. Dann fasste sich Janosz an den Hosengürtel und erwiderte: Zum Gedenken tue ich andere Dinge. Noch bevor Seev Feinberg zum Kommando gestoßen war, hatte sich Janosz’ Gürtel schon um die Hälse von zwanzig ehemaligen deutschen Soldaten geschlungen. Ansonsten hielt er die Hose und das eingesteckte Oberhemd. Mit seinen Vorgesetzten in Israel hatte Janosz eine einfache Abmachung getroffen: Für jeden, den er erwischte und den Behörden übergab, durfte er einen weiteren töten. So bekäme der Staat Israel seine staatliche Rache und er seine persönliche. Selbstverständlich müsse ein solches Abkommen streng geheim bleiben, falls er geschnappt werden sollte, erklärten ihm seine Vorgesetzten. Aber diese Gefahr bestand nicht. Mit seinem mickrigen Körperbau, dem akkuraten Oberhemd und dem abgewetzten Gürtel erregte Janosz keinerlei Verdacht, eine Straftat begangen zu haben, außer, vielleicht, eine Steuerhinterziehung.
Die Kameraden hielten Abstand von ihm. Er trank nicht, erzählte keine Witze, klopfte nach erfolgreicher Jagd keinem auf die Schulter und nahm seine Mahlzeiten lieber allein ein. Seev Feinberg wiederum behandelten sie wie einen Prinzen. Der erste Jäger bei Tag – der erste Draufgänger bei Nacht. Denn gleich nach Beendigung der täglichen Jagd fürchtete sich Seev Feinberg ja derart vorm Innehalten, dass seine Füße ihn sogleich zum Tanzen drängten. So schleppte er denn die anderen mit ins Kabarett in den Städten, ins Wirtshaus in den Dörfern, wo immer der Mensch seine Füße bewegen und seinen Kopf zum Schweigen bringen kann. Janosz ließ sich dort nicht sehen, aber wenn der Abend zu Ende war und die anderen Männer zu ihren Betten wankten oder huckepack dahin abgeschleppt werden mussten, wartete er vor Seev Feinbergs Zimmertür. Dann unternahmen die beiden ihren stummen nächtlichen Marsch, ihre Schritte hallten durch die leeren Straßen. Stundenlang gingen sie, ohne eine Silbe zu sagen, jeder auf seiner persönlichen Flucht. Seev Feinberg fragte Janosz niemals, wovor, und Janosz fragte niemals Seev Feinberg.
Eines Nachts, als sie durch eine dunkle Gasse gingen, blieb Janosz abrupt stehen. Seev Feinberg drehte sich überrascht um. Nie hatte Janosz vor vier Uhr morgens innegehalten, und jetzt war es noch keine zwei. Doch dann sah er, wie die Augen seines Freundes einen Mann fixierten, der ein Stück weiter die Straße überquerte und dabei einen Kinderwagen schob.
»Hermann Ungerat.«
Und ehe Seev Feinberg noch etwas sagen konnte, rannte Janosz dem Mann auch schon nach. Feinberg holte ihn hastig ein. Sie seien doch mitten in der Stadt, ohne jede Rückendeckung. Es wäre der reinste Selbstmord, den Mann jetzt schon zu fangen. Sie würden ihn heute Nacht gemeinsam beschatten und morgen wiederkommen, um ihn zu schnappen. Auf Feinbergs Worte blieb Janosz kurz stehen, sagte mit brennenden Augen und bebender Stimme: »Lieber sterbe ich hier, mit ihm, als dass ich diesen Mann noch eine Nacht schlafen lasse.« Janosz lief dem Mann wieder nach und Feinberg mit. Jetzt hob der Mann das Baby aus dem Wagen und wiegte es auf den Armen, summte ihm Worte vor, die Seev Feinberg nicht verstehen konnte, aber sinngemäß durchaus erfasste. Er war ja mit seinem eigenen Sohn so unterwegs gewesen, vor vielen Nächten, bemüht, das Kind mit Flehen und Fluchen dazu zu bringen, endlich das Weinen einzustellen und sanft zu schlummern. Der Mann griff das Kind um, und das Weinen verebbte ein wenig. Nun legte er es
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