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Eine Nacht, Markowitz

Eine Nacht, Markowitz

Titel: Eine Nacht, Markowitz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ayelet Gundar-Goshen
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Feinberg plötzlich, unter den Fausthieben, Schritte nahen hörte. Am Boden liegend, unter Janosz, der auf ihm saß und unbarmherzig auf ihn eindrosch, sah er, über dessen Schulter hinweg, einen deutschen Polizisten herbeirennen. Ein einzelner Schuss zerriss die Nacht. Janosz sank zur Seite.
    Seev Feinberg kam wieder zu Atem. Der Polizist, dicklich, erschrocken und hochrot im Gesicht, baute sich vor ihm auf. »Was ist los? Was geht hier vor sich?« Seev Feinberg warf einen schnellen Blick auf die beiden Leichen. »Ich habe einen Nachtspaziergang gemacht. Plötzlich sah ich diesen Irren hier den Mann dort erwürgen. Ich wollte eingreifen, aber da hat er mich auch noch angegriffen. Sicher hätte er mich umgebracht, wenn Sie nicht gekommen wären.«
    »Und das Baby?«
    »Ist meins.«
    Der erschrockene Polizist beugte sich über Hermann Ungerats Leiche. Während er nach Papieren suchte, die ihm Auskunft über die Person des Opfers geben würden, sprang Seev Feinberg ihn an und betäubte ihn mit Faustschlägen. Einen Moment stand er da und sah auf den ohnmächtigen Polizisten, den erwürgten Nazi und den erschossenen Holocaustüberlebenden. Dann nahm er das Baby und suchte das Weite.
    Es war ein Mädchen. Etwa anderthalb Jahre alt. Goldenes Haar und blaue Augen und ein Lächeln, das ihm die Tränen in die Augen trieb. Seinen Kameraden erzählte er, sie sei eine Verwandte von ihm. Er sei mit Janosz losgegangen, um sie aus dem Waisenhaus abzuholen. Auf dem Rückweg hätten sie einen ehemaligen Nazi-Offizier erkannt. Janosz habe seine Pflicht getan, sei aber von einem deutschen Polizisten erschossen worden. Er selbst habe mit dem Polizisten gekämpft und flüchten können. Die Geschichte war nicht besonders glaubwürdig, aber Feinberg wiederholte sie so energisch, dass die Zweifel verstummten. Zumindest für einige Zeit. Sein Geld, das er zuvor für Tanzlokale und Spirituosen ausgegeben hatte, sparte er jetzt für Ammen, die er für das Baby in den Dörfern am Weg fand. Immer, wenn sie in einem dieser Dörfer aus dem Auto stiegen – rote Ziegeldächer, gestutzte Hecken – nahm Seev Feinberg die Kleine fest auf den Arm, denn die Kräfte, die ihm befahlen, sie fallen zu lassen, waren sehr groß. Schweigend ließ er die Augen über die Gesichter der Bauern schweifen, um herauszufinden, wessen Hand zwar die Hacke hielt, aber den Gewehrhahn suchte. Die Bauern blickten dumpf und ängstlich zurück, gänzlich erfüllt von dem einen Ausruf: »Ich hab nichts gewusst!« Aber sie hatten ja was gewusst, dachte Seev Feinberg, während er seine Pistole reinigte, sicher haben sie was gewusst. Und diese Kleine, Tochter des Getto-Offiziers Hermann Ungerat und einer namenlosen Frau, hatte auch was gewusst. Wenn ihr Vater und ihre Mutter davon wussten, dann wusste es doch irgendwie auch das Baby, egal, ob es damals nichts als eine Eizelle und eine separate Samenzelle gewesen war.
    Unter der Nachttischlampe betrachtete Seev Feinberg die rosigen Arme der Kleinen, in denen rein arisches Blut floss. Und er dachte an die Arme, die blau und grau geworden waren, nur weil kein solches Blut in ihnen floss. Wenn er die Lampe ausknipste, glaubte er fest, dass er morgen ohne sie weiterziehen, sie einfach dalassen würde. Mit ihrem goldenen Haar und den blauen Augen würde sie gewiss genug Mitleid bei jemandem im Dorf erregen. Doch bei Tagesanbruch wickelte er sie gut, gut ein und nahm sie mit. Denn nie fühlte er sich stärker als in dem Moment, in dem er ein vaterloses arisches Baby in den Armen hielt. Nicht einmal die Liquidierung von Nazis konnte damit konkurrieren. Wenn sie Rache an einem SS-Offizier auf seinem Kohlacker übten, hielt die Genugtuung nur wenige Sekunden an. Sekunden, in denen sie Tränen in den Augen des Mannes sahen, der um sein Leben flehte, und das war ein sehr erhebender Moment. Aber sie wussten sehr wohl, dass die Augen des Offiziers unzählige flehende Bitten gesehen hatten, und bei dem Gedanken verwandelte sich ihr Sieg in eine Niederlage, noch ehe das Blut getrocknet war. Doch wenn Seev Feinberg das Baby hielt, empfand er ein Triumphgefühl, das nicht gleich wieder verflog. Denn der Mensch fühlt sich ja niemals stärker als in dem Augenblick, in dem er sich desjenigen erbarmt, dessen Erbarmen er zuvor auf Gedeih und Verderb ausgeliefert gewesen war.
    Jetzt zog er abends nicht mehr mit den Kameraden los, sondern blieb in seinem Zimmer, ging mit der Kleinen auf den Armen auf und ab, um sie zu beruhigen. Schnell entdeckte er,

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