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Eine Nacht, Markowitz

Eine Nacht, Markowitz

Titel: Eine Nacht, Markowitz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ayelet Gundar-Goshen
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warum Hermann Ungerat spät nachts auf der dunklen Straße mit ihr unterwegs gewesen war: Sie hörte erst dann auf zu weinen, wenn er sie an der frischen Luft wiegte. Seev Feinberg, der zuvor bis in die frühen Morgenstunden mit Janosz draußen herumgelaufen war, fand sich nun bis in dieselben frühen Morgenstunden mit dem Baby im Arm draußen herumlaufen. Wenn ihm im Dunkel einer abgelegenen Gasse plötzlich die tote Mutter und das Baby entgegenkamen, drehte er sich ihnen mit dem Baby im Arm zu, und sie wichen zurück. Das war seine Sühne.

12
    A ll die Tage, in denen Seev Feinberg im zerstörten Europa Nazis jagte, verbrachte Sonia in Tel Aviv. Die Kinder hatte sie in der Obhut von Lea Ron gelassen, die sich – für ein geringes Entgelt – bereitgefunden hatte, sie zu füttern und zu waschen und schlafen zu legen und vielleicht auch ein bisschen mit ihnen zu spielen. Sonia hätte die Kinder zwar lieber bei Bella untergebracht, aber die Freundin war in ihre Übersetzungsarbeit vertieft, und Wörter und Kleinkinder leben nicht gut unter einem Dach. Nach Tel Aviv wollte sie sie nicht mitnehmen. Sie wusste sehr wohl, dass sie dort von morgens bis abends würde arbeiten müssen. Warum sie dann der Pflege fremder Menschen anvertrauen? Noch einen weiteren Grund hatte Sonia, die Kinder nicht aus dem Dorf herauszureißen: Zwi Markowitz. Jair und Zwi bekamen am selben Tag einen neuen Zahn, erkrankten am selben Tag an Windpocken und wurden am selben Tag wieder gesund. Sie schliefen zur selben Zeit ein und wachten zur selben Zeit auf, und wenn einer von ihnen zu Hause losheulte, wusste seine Mutter sofort, dass auch im Haus am Ende der Straße gleich die Wände wackeln würden vor lauter Geschrei. Deshalb zog Sonia allein in die Stadt, sammelte fünf Wochentage lang Sehnsucht und Schuldgefühle im Herzen an und baute sie am Wochenende mit Spielen und Schmusen daheim wieder ab.
    Die erste Woche in Tel Aviv verbrachte sie damit, das Büro des Irgun-Vizechefs umzukrempeln. Sie fegte und wischte und heftete und machte und glaubte zu sterben vor Langeweile. In der Moschawa hatte sie wenigstens die weiten Flächen, zu denen sie die Augen heben konnte, wenn die Routine unerträglich wurde. Aber wenn man hier die Augen hob, sah man nichts als Aktenordner. Hunderte von Aktenordnern. Tausende von Seiten. Und alle hatten allein auf sie gewartet. Schlimmer noch als die Aktenordner war der Tee. Viele Besucher kamen ins Büro des Irgun-Vizechefs, und alle tranken sie Tee. Der eine stark, der andere schwach, einer mit Zitrone und einer mit Milch, einer im Glas und einer stets nur aus den Steinguttassen. Als der dreißigste Besucher ankam und ihr ausführlich vorschrieb, wie sie den Zucker in seinem Teeglas umrühren sollte, machte sich ihre Zunge selbstständig: »Wenn ich fragen darf, wie viele Glas Tee trinken Sie täglich, mein Herr?«
    Der Mann war überrascht, dachte kurz nach und erwiderte: »Fünf. Vielleicht sechs. Kommt aufs Wetter an.«
    »Und wird Ihnen der Zucker immer gleich umgerührt?«
    »Durchaus.«
    »Nehmen wir also an, dass Sie das Verhalten des Durchschnittsmannes in Tel Aviv an den Tag legen. Nehmen wir ferner an, dass in der Stadt etwa fünfzigtausend Männer leben, die täglich etwa fünf Glas Tee trinken, was, wenn ich mich nicht täusche, zweihundertfünfzigtausend Glas Tee pro Tag ergibt. Den Zucker in diesen zweihundertfünfzigtausend Teegläsern rühren Sekretärinnen, Ehegattinnen, Schwestern und Töchter um. Rechnen wir nun mal aus, was wäre, wenn ihr ihn alle selbst umrühren würdet. Beim Reden. Das fällt anfangs zwar schwer, aber Sie werden staunen, wie schnell der Körper sich an derlei Umstellungen gewöhnt. Sagen Sie mir, wie viele Arbeitskräfte würden wir damit einsparen?«
    Der Fremde sah Sonia interessiert an. Der Irgun-Vizechef war dem Ersticken nahe, fragte sich, warum in drei Teufels Namen Sonia ihre Teegläserrede ausgerechnet dem Irgun-Chef höchstpersönlich halten musste. Aber Sonia wusste gar nicht, wen sie vor sich hatte, stand dem Irgun-Chef daher völlig selbstsicher und gelassen gegenüber, und ihre etwas zu weit auseinanderstehenden, grauen Augen strahlten kühn und leicht belustigt. Der Irgun-Vizechef wollte Sonia gerade aus dem Zimmer schicken, hoffte dabei einen leicht tadelnden Unterton hinzukriegen, merkte jedoch plötzlich, dass der Irgun-Chef Sonia nicht weniger belustigt ansah als sie ihn.
    »Verdammt noch mal, Freuke, wie kannst du es wagen, diese Frau als Sekretärin zu

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