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Eine Nacht, Markowitz

Eine Nacht, Markowitz

Titel: Eine Nacht, Markowitz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ayelet Gundar-Goshen
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die der Betrachter fast augenblicklich wieder vergaß, dieses Gesicht war für den Jungen eine unerschöpfliche Quelle der Anregung und des Vergnügens. Er erkundete die etwas tief liegenden Augen, die schütteren Brauen, die Furchen an den Mundwinkeln, die gewölbte Stirn. Jakob Markowitz gab sich dieser Forschertätigkeit bereitwillig hin, auch wenn das Kind ihn in die Nase kniff oder ein unvorsichtiges Fingerchen nach den Augen ausstreckte. Manchmal meinte er, seine Züge nie wirklich gekannt zu haben, ehe Zwi mit seinen Forschungen angefangen hatte. Bei jedem Befühlen, Zwicken, Kratzen und Kitzeln meinte Jakob Markowitz, einen weiteren Beweis für seine Existenz zu erhalten.
    Vom Schlafzimmer horchte Bella auf Zwis nächtliche Erkundungen. Sie hörte seine Füße zum Wohnzimmer trappeln und verspürte einen Stich im Herzen. Hatte sie sich vorher oft gewünscht, der Kleine möge sie endlich nicht mehr mit seinen Ängsten und Gedanken im Schlaf stören, hoffte sie nun jede Nacht auf seinen Besuch. Sie wollte, er würde sein rundes Gesichtchen durch den Türspalt stecken, »Darf ich?« fragen und ihr Bett erstürmen, ehe sie noch ablehnen konnte, würde um ein Lied oder eine Geschichte bitten, was von einem Traum brabbeln und einschlafen, ehe er damit fertig war. Der Spaß, den ihr Sohn am Spiel mit dem ihr verhassten Gesicht hatte, weckte ein starkes Gefühl bei ihr. Es dauerte lange, bis sie es erkannte. Eifersucht. Sie war eifersüchtig auf Jakob Markowitz. Das fand Bella so abwegig, so widerlich, dass sie die Augen nun erst recht von Jakob Markowitz’ Gesicht abwandte. Jakob Markowitz merkte es, konnte seine Augen aber trotzdem nicht von ihr lassen, denn sie war ja – immer noch – die schönste Frau, die er je gesehen hatte. Aber vollkommen war sie nicht mehr. Eine große Narbe überzog ihre linke Hand, so grauenhaft, dass nicht mal seine Augen ihr etwas Schönes abgewinnen konnten. Ein paar Mal versuchte er aus ihr herauszuholen, wo die Narbe herkam, erntete aber immer nur einen kühlen Blick. Deshalb beschloss er, Feinberg zu fragen. Doch als er am Haus seines Freundes ankam, fand er es fest verrammelt vor.
    Zehn Tage zuvor war Sonia im Büro des Irgun-Vizechefs erschienen. Er war gerade in ein Buch vertieft, und als er die Augen hob, sah er sie vor sich. Als hätte sie immer dort gestanden. Als hätte er nicht schon tausend Mal die Augen gehoben, voll Erwartung auf genau diesen Anblick, und nichts vorgefunden als das dürftige Zimmer. Er musste die Augen wieder aufs Buch senken und erneut heben, um sicherzugehen, dass er nicht fantasierte. Auch auf den zweiten Blick stand sie noch da. Ein bisschen voller. Sehr resolut. Ihre etwas zu weit auseinanderstehenden, grauen Augen blickten ihn gerade an. Und einen kurzen Moment dachte der Irgun-Vizechef, nun sei der Tag gekommen, an dem er von seiner Liebe zu ihr geheilt wäre. Denn als er Sonia über den Tisch weg anschaute, empfand er nichts als Überraschung. Sein Herz erbebte nicht. Das Blut floss weiter träge durch seine Adern. Die Körpertemperatur blieb unverändert. Außer dem Krächzen einer Krähe hörte man keinen Vogellaut von der Straße. Alles in allem schien Sonias Anwesenheit im Zimmer keinerlei Wirkung zu entfalten, dachte der Irgun-Vizechef. Aber dann! Wie bei den Bomben, die er im Krieg gelegt hatte, deren lange Zündschnur einem einige Minuten Zeit lässt, ehe alles in Flammen aufgeht, war die Zündschnur von Sonias Anwesenheit abgebrannt. Das Herz des Irgun-Vizechefs fing an zu vibrieren wie ein rostiger Flugzeugpropeller, das Blut schäumte in den Adern, die Körpertemperatur katapultierte in schwindelnde Höhen, und alle Vögel Tel Avivs (Spatzen in den Straßen, Tauben auf den Plätzen, Amseln auf den Stromdrähten, Honigsauger in den Grünanlagen, Möwen am Kai und ein Papagei im Bordell) fingen mit einem Schlag zu singen an.
    Den lauten Vogelgesang in den Ohren, wandte der Irgun-Vizechef Sonia das Gesicht zu und fragte nach dem Grund ihres Kommens. Er meinte, wegen des Vogellärms falsch verstanden zu haben, als sie antwortete, sie komme mit der Bitte, ihren Mann zu retten. »Retten? Feinberg?« Und eigentlich hätte er sagen wollen: Feinberg möchtest du retten? Feinberg, der nachts mit dir schläft und dich morgens umarmt und dir wann immer er will – sogar in dieser Sekunde! – die Wange streicheln darf? Wovor muss so ein Mann denn wohl gerettet werden? Was kann ihn schon bedrohen?
    Sonia setzte sich auf den Holzstuhl vor dem Tisch

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