Eine Nacht, Markowitz
behutsam zurück in den Wagen und ging weiter. Während sie den Vater beschatteten, erzählte Janosz von Hermann Ungerat. »Der netteste Offizier im Getto. Faszinierend war er. Kultiviert. Zitierte gern Goethe. Nachmittags, wenn die Menschen vor Müdigkeit und Hunger kaum noch den Mund aufkriegten, sagte er den Entgegenkommenden lächelnd: ›Über allen Gipfeln/Ist Ruh’,/In allen Wipfeln/Spürest du/Kaum einen Hauch;/Die Vögelein schweigen im Walde./Warte nur, balde/Ruhest du auch.‹
Und mein Vater verehrte Goethe, deklamierte ihn auswendig. Immer sagte er, die Dichtung sei die Versicherungspolice des Herzens. Als er Hermann Ungerat Goethe deklamieren hörte, dachte er, er würde uns vielleicht helfen.«
Jetzt standen sie im Schatten eines Kastanienbaums, beobachteten den Mann, der unter der Laterne eine Zigarre rauchte, die linke Hand am Kinderwagen. Mit seiner aufrechten Haltung und den hübschen Gesichtszügen wirkte er wie eine Statue. »Als die Aktionen losgingen, schickte mein Vater Sara zu ihm. Sie war zehn Jahre alt. Schön wie ein Engel. Goethe konnte sie auswendig. Wir sahen alle schon so elend aus, weißt du, aber Sara, keine Ahnung, wie das angehen konnte, hatte sogar im Getto rosige Wangen. Vielleicht wegen der Kälte. Und der Hunger hatte ihre Augen noch blauer gemacht. Ich scherze nicht. Ich sah den Fluss darin. Keiner hätte so einem Engelchen etwas Böses antun können. Gewiss kein Freund der Dichtung. Die haben doch so ein butterweiches Herz.«
Beim Reden zog Janosz den Gürtel aus der Hose. Sein Oberhemd rutschte ein Stück mit, ein Zipfel lugte aus dem Hosenbund. »Wir haben sie losgeschickt, damit sie um unser Leben fleht. Ein weißes Kleid haben wir ihr angezogen. Ein Engelsgewand. Sie kam erst gegen Morgen wieder. Blut war an ihrem Kleid. Sie konnte kaum gehen. Mein Vater wimmerte vor Wut. Oder vor Trauer. Oder vor Scham. Sie wollte nicht mehr aus dem Bett. Bei der nächsten Aktion haben sie sie mitgenommen.«
Plötzlich spurtete Janosz von der Kastanie zu dem Mann unter der Straßenlaterne. Von seinem Standort sah Seev Feinberg Hermann Ungerat, den Körper halb im Dunkel, halb im Licht, Janosz verblüfft anstarren. Ehe Ungerat noch begriff, wie ihm geschah, landete der Gürtel auch schon um seinen Hals. Die beleuchtete Hälfte seines Gesichts verfärbte sich von gesundem Rosa in Rot, von Rot in Violett und von Violett in Grau. Seev Feinberg verließ ebenfalls den Kastanienbaum, ging zu Janosz, dem kleinen und schmalen Bankbeamten, der den Ledergürtel immer strammer zog, bis es schien, der Kopf würde sich jeden Augenblick vom Körper lösen. Wenige Schritte vor den beiden blieb Seev Feinberg stehen. Er durfte nicht stören. Aus dieser Entfernung sah er Hermann Ungerat, den Liebhaber von Goethe und zehnjährigen Mädchen, auf die Knie sinken. Aus dieser Entfernung hörte er auch, gleich darauf, das Weinen des Babys.
Im ersten Moment schienen Janosz’ Ohren taub zu sein für das Weinen, das aus dem Kinderwagen kam. Vielleicht füllten sie sich eben jetzt mit einem anderen Weinen. Aber als er den Gürtel ein letztes Mal anzog und den Kopf des zusammengesackten Mannes dann mit einem lauten Klacken zu Boden fallen ließ, hörte er es. Einen langen Augenblick betrachtete Janosz das Baby im Wagen. Dann löste er mechanisch den Gürtel von Hermann Ungerats Hals und schlug eine sehr kleine Schlinge hinein.
»Nein!«
Seev Feinberg stürmte los und stieß Janosz beiseite, eine Sekunde bevor er den Gürtel um den Hals des Babys schlingen konnte. »Tu ihm nichts zuleide!« Seev Feinberg griff nach dem Bündel, aber Janosz sprang ihn an. Er war kleiner und schmaler als Seev Feinberg, und doch konnte Seev Feinberg ihn nicht abschütteln. »Es muss sterben, Feinberg, versuch nicht, mich davon abzuhalten.«
Seev Feinberg blickte Janosz in die Augen. Nicht Hass entdeckte er dort, auch keinen Rachedurst, sondern reinste Verzweiflung. Er würde nie wieder schlafen können, wenn er das Baby in Frieden ließ. Wie Seev Feinberg nie wieder Schlaf finden würde, wenn er Janosz gewähren ließ. Deshalb rangen sie weiter miteinander. Seev Feinberg wusste nicht, wie lange sie schon so kämpften, unter der Laterne, bei dem weinenden Baby und Hermann Ungerats erkaltender Leiche. Vielleicht dauerte es wenige Minuten, vielleicht eine ganze Stunde. Aber er wusste sehr wohl, dass Janosz ihn überwältigen würde. Er hatte ihm schon drei Zähne ausgeschlagen und prügelte ihn gerade halb ohnmächtig, als Seev
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