Eine Nacht zum Sterben
Anweisung, in diesem Fall zu töten. Das darfst du nicht vergessen. Ho Tsen, Rossiter und Montefiore – alle drei müssen sie sterben.«
Der Jamaikaner schüttelte den Kopf. »Als ich damals noch mit Harvey in Soho lebte, habe ich so ziemlich jede Sorte von Halunken und Gaunern kennengelernt – aber du gehörst zu einer besonderen Kategorie.«
»Deshalb habe ich diesen blutigen Job auch zwölf Jahre überlebt«, sagte Chavasse. »Bleibst du also dabei – oder verzichtest du?«
»So wie die Dinge stehen, bleibt mir wohl keine Wahl. Ich weiß wohl, wenn ich in Rossiters Nähe komme und ihn nicht zuerst erwische, dann drückt er eben ab. Und das geht mir gegen den Strich; ich will diese Situation einfach nicht wahrhaben. Ich habe jahrelang mit Harveys Freunden und Bekannten zu tun gehabt – einem Psychologen würde es bestimmt nicht schwerfallen festzustellen, warum ich ausgerechnet Rechtsanwalt geworden bin.« Er seufzte. »Aber du kannst mit mir rechnen, Paul. Du kannst dich auf mich verlassen.«
»Gut, jetzt weiß ich also, woran ich bin. Ich rufe gleich unseren Mann in Marseille an. Ich möchte, daß er alles für uns arrangiert hat, wenn wir morgen früh ankommen.«
Er stand auf. Darcy sagte: »Die Camargue – was ist das eigentlich für eine Gegend?«
»Das Mündungsdelta der Rhone«, sagte Chavasse. »Fast fünfhundert Quadratkilometer Lagunen, natürliche Kanäle, Marsch, weiße Dünen und heiße Sonne, wenn es auch um diese Jahreszeit zum Sonnenbaden nicht besonders günstig ist. In der Camargue gibt es weiße Pferde, wilde Stiere und Flamingos. Als Junge bin ich mal dort gewesen, das ist schon zwanzig Jahre her; aber ich habe diese Landschaft nie vergessen.«
»Aber was, zum Teufel, machen die denn bloß da unten?« fragte Dracy.
»Das werden wir ja sehen, nicht?« sagte Chavasse und ging telefonieren.
Jacob Malik war gebürtiger Pole. Er hatte sein Geburtsland kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs aus politischen Gründen verlassen. Ein paar Jahre lang hatte er für das Deuxieme Bureau gearbeitet, den alten französischen Geheimdienst, der im Jahr 1940 zusammengebrochen war. Während des Krieges hatte er Kurierdienste für die British Special Operations Executive und die französische Widerstandsbewegung geleistet. Seine abenteuerliche Karriere war jäh zu Ende gegangen, als während des französisch-algerischen Konflikts die F. L. N. eine Handgranate in sein Hotelzimmer warf. Er hatte dann mit seiner maurischen Frau und drei Kindern ein kleines Café in der Hafengegend von Marseille eröffnet. Seit sechs Jahren war er der hiesige Agent des Geheimdienstes; Chavasse hatte schon zweimal mit ihm zusammengearbeitet.
Er wartete neben einem Lieferwagen Marke Renault und stützte sich auf seinen Stock; ein schlanker, elegant aussehender Mann mit einem gepflegten Schnurrbart, seine sechzig Jahre sah man ihm nicht an.
Er zog beim Gehen ein Bein nach. Chavasse begrüßte er überschwenglich. »Mein lieber Paul, wie wunderbar, dich wiederzusehen. Wie geht es dir?«
»Ausgezeichnet.« Chavasse drückte ihm die Hand. »Und wie geht’s Nerida und deiner Familie?«
»Gut, gut. Sie möchte immer noch gern nach Algier zurück, aber das können wir ja nicht. Ich würde dort keine Woche am Leben bleiben. Die Araber haben ein gutes Gedächtnis.«
Chavasse stellte ihm Darcy vor; dann stiegen sie in den Renault und fuhren los. Es war warm und ziemlich schwül, schwere graue Wolken verdeckten die Sonne; und doch war das Licht hell und blendete, wie es für Marseille so typisch ist.
»Was hast du arrangiert?« fragte Chavasse.
»Ich habe nach deinem Anruf lange über die Sache nachgedacht«, sagte Malik. »Um genau vier Uhr ist mir eine geniale Idee gekommen, das muß ich in aller Bescheidenheit sagen. In die Camargue zu kommen, ist kein Problem. Aber unbemerkt zu bleiben, das ist unmöglich.«
»In einem fünfhundert Quadratkilometer großen Gebiet von Lagunen und Marschlandschaft?« sagte Chavasse. »Das verstehe ich nicht.«
»Oh, das Gebiet ist tatsächlich sehr dünn besiedelt; es gibt dort hauptsächlich Wildhühner und ein paar Cowboys, die die jungen Stiere und die wilden Pferde hüten. Aber gerade weil es eben so wenig Menschen dort gibt, ist es für Fremde schwierig, unbemerkt zu bleiben. Man braucht also einen für jedermann einsehbaren Grund, um sich dort aufzuhalten, einen einleuchtenden Grund.«
»Und dir ist einer eingefallen?«
»Vögel beobachten«, sagte Malik trocken.
Darcy
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