Eine Nacht zum Sterben
irgendwas über Hellgate oder Montefiore in Erfahrung bringen können?«
»Ich bin natürlich nicht aus Marseille herausgekommen, dazu war die Zeit zu knapp; aber ein paar Informationen habe ich doch beschaffen können. Das Haus selbst ist rund siebzig Jahre alt. Gebaut hat es in den neunziger Jahren ein russischer Schriftsteller namens Kurbsky. Der Mann konnte den Zar nicht leiden und machte auch keinen Hehl aus seiner Abneigung. Seine Romane müssen damals in Europa und Amerika ziemlich hohe Auflagen gehabt haben; jedenfalls hat er allerhand Geld verdient. Auf einer seiner Reisen ist er in die Camargue gekommen, um sich die Stierzucht anzusehen. Die Gegend gefiel ihm, und er hat sich hier niedergelassen. Diese abgelegene Gegend hat er gewählt, weil er viel Wert darauf legte, zurückgezogen leben zu können. Das Haus ist ganz aus Holz und in russischem Stil gebaut.«
»Was ist dann mit ihm passiert?« fragte Darcy.
»Nach der Oktoberrevolution ist er dann wieder nach Rußland gegangen – das war natürlich ein Irrtum. Unter Lenin erging es ihm nicht besser als vorher unter dem Zarenregime; nur konnte er nun das Land nicht mehr verlassen. Neunzehnhundertfünfundzwanzig ist er gestorben; vielleicht hat man ihn auch hingerichtet. Das alles war übrigens nicht schwer zu erfahren. Marseille hat eine ausgezeichnete Bibliothek. Ich habe einen Freund mit Verbindungen zum Katasteramt in Arles, und der hat sich nach den Besitzverhältnissen erkundigt. Im letzten Krieg haben die deutschen Truppen in Hellgate eine Art Stützpunkt errichtet. Danach waren die Gebäude dann unbewohnt; und vor vier Jahren hat ein Mann namens Leduc Hellgate gekauft.«
»Leduc?« Chavasse runzelte die Stirn.
»Das ist der Name, wie er im Grundbuch angegeben ist.«
Chavasse nickte bedächtig. »Schön. Ich werde dich, soweit wir informiert sind, über unsern Fall instruieren. Damit du weißt, was dich erwartet.«
Malik hörte ihm aufmerksam zu. Schließlich sagte er: »Eine eigenartige Geschichte. Dieser Rossiter zum Beispiel. Einerseits ein stümperhafter Amateur, der einen Fehler nach dem andern macht. Andererseits ein kaltblütiger, gemeiner und skrupelloser Mörder …«
»Und was hältst du von Ho Tsen?«
»Sicher ein gefährlicher Mann. Aber wie kommt ein Profi wie er dazu, sich mit solchen Leuten einzulassen?«
»Genau das müssen wir eben herausfinden«, sagte Chavasse. »Ein paar Vermutungen habe ich allerdings. Du weißt selbst, wie schwer es die Chinesen auf dem Gebiet der Spionage haben. Die Russen haben nicht annähernd solche Schwierigkeiten. Ihre eigenen Leute können sich immerhin als Bürger der meisten westlichen Länder ausgeben. Die Chinesen können das natürlich nicht, sie fallen im Westen überall auf; das mag ein Grund sein, weshalb sie sich mit einem Mann wie Rossiter einlassen; ob er nun ein Amateur ist oder nicht. Aber das erklärt immer noch nicht, was Montefiore damit zu tun hat.«
Malik nickte. »Und wenn du alles herausbekommen hast – was dann?«
»Dann wird liquidiert – alle ohne Ausnahme.«
»Und das Mädchen«, meinte Darcy. »Was geschieht mit ihr?«
»Wenn es möglich ist, holen wir sie heraus.«
»Aber nur wenn es möglich ist?«
»Genau. Und nun laßt uns an die Arbeit gehen. Wir haben noch den ganzen Nachmittag Zeit. Bis zur Dunkelheit können wir noch allerhand schaffen. Einverstanden, Jacob?«
Malik nickte. »Ich kenne die Gegend und werde das Steuer übernehmen. In gut drei Stunden müßten wir die Strecke geschafft haben. Vorausgesetzt, das Wetter hält sich; allzu gut sieht es nicht aus.«
Er ging an Deck, und Chavasse folgte ihm. Er stellte sich an die Reling und betrachtete Marseille, während sie aufs offene Meer hinausfuhren. Marseille war eine uralte Stadt, die schon viele Herren gesehen hatte: Phönizier, Griechen, Römer.
Hinter Cap Croisette hatte sich der Himmel verdunkelt, düstere Wolken hatten sich zusammengeballt, und als sie die offene See erreichten, fielen die ersten schweren Regentropfen.
Von der See her sah die Camargue aus wie eine Ansammlung von Dünen, die sich in der Ferne am Horizont verloren. Als sie landeinwärts steuerten, kamen sie durch dichtes Schilfrohr und Sumpfgras, das sich weit über die Wasseroberfläche erhob. Ein schwerer, beißender Geruch hing über der Sumpflandschaft; die verfaulenden Pflanzen und der schwarze gashaltige Sumpfboden strömten diesen Geruch aus, der an eine vergangene düstere Urwelt erinnerte; ein Ort, über den die Zeiten
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