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Eine naechtliche Begegnung

Eine naechtliche Begegnung

Titel: Eine naechtliche Begegnung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Meredith Duran
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er. Er machte auf dem Absatz kehrt, und während er die Stufen hinaufstieg, nickte er jemandem zu, den sie nicht sehen konnte.
    Dann schlug die Tür der Kutsche vor ihrer Nase zu.
    Nell lehnte sich zurück.
Haben Sie ein wenig Vertrauen
. Die Anweisung wurde lustiger, je länger sie darüber nachdachte. Vertrauen in ihn? Warum? Warum in Gottes Namen sollte sie zu einem Mann wie ihm auch nur das geringste bisschen Vertrauen haben? Die Kleidung, die er trug, kostete wahrscheinlich einen Jahreslohn in der Fabrik. Er war gerade so gelassen in das Gefängnis spaziert, als ginge er auf einen Ball. Gewöhnliche Ängste machten keinen Eindruck auf ihn. Wahrscheinlich fand er es drollig, dass sie sich Sorgen machte.
    Haben Sie ein wenig Vertrauen
. War es in seiner Welt so leicht, jemandem zu vertrauen? Vielleicht konnte er sich nicht einmal eine Situation vorstellen, in der ihm ein wenig Vorsicht nützlich wäre. Wenn das Leben so einfach war, der Boden eben und mit Teppichen gedämpft, dann musste man nicht einmal aufpassen, wo man hintrat.
    Sie hörte noch das Echo seiner Stimme in der stillen Kabine. Hinreißend. Leise, sanft, vornehm – seine Vokale waren so klar wie Bruchstücke von Diamanten. Mum hatte so gesprochen. Die Leute hatten sie dafür ausgelacht. Sie säße auf einem zu hohen Ross im Vergleich zu den wenigen Pennys in ihrer Tasche.
    Gegenüber auf der Bank lag ein Taschentuch. Es schimmerte im sanften Licht der seitlich angebrachten Lampe. Sie nahm es in die Hand. Weich und glatt, von der Farbe des Sommerhimmels, mit feiner Weißstickerei an den Rändern. Das Monogramm SR war in eine Ecke gestickt.
    Nell steckte es ein. Nur für den Fall, sagte sie sich.
    Langsam ließ sie den Kopf gegen die Rückenlehne sinken. Für welchen Fall? Wollte sie diese Irren wirklich gewähren lassen?
    Ich habe dich mitgenommen
, hatte Mum gesagt.
    Nach jener Nacht hatte Mum sich geweigert, noch einmal über Rushden zu sprechen. Bald war sie nicht mehr klar genug gewesen, um überhaupt zu sprechen. Aber das hatte sie geflüstert:
Ich habe dich mitgenommen
. Und:
Zu deinem Besten
.
    Mum war immer ein bisschen verrückt gewesen. Aber wie sollte man es nennen, wenn sie ein fremdes Kind gestohlen hatte?
    Wenn sie mich gestohlen hat.
    Nell schluckte. Zu denken, dass das Mädchen auf dem Foto mehr war als ihre Halbschwester, war zu merkwürdig, ihr wurde fast übel davon. Wenn St. Maur recht hatte, dann hatten sie gemeinsam in einem Mutterleib gelegen.
    Aber Nell hatte Zwillinge gekannt, die Miller-Mädchen vom Ende der Straße. Die waren unzertrennlich. Beendeten gegenseitig ihre Sätze. Liebten einander mehr als ihre Ehemänner … So eine Verbindung, hätte sie die vergessen können? Sie hatte Katherine Aubyns Fotografie gesehen, aber es hatte ihr Herz nicht berührt – nur einen dunklen Teil in ihr, Neid, Bitterkeit und Wut.
    Aber selbst wenn St. Maurs Geschichte nicht stimmte … Unwillkürlich betrachtete sie das Innere der Kutsche. Selbst dieser kleine Raum war feiner als alles, was sie je ihr Eigen genannt hatte. Von wegen! Feiner als alles, was sie bis letzte Nacht überhaupt zu Gesicht bekommen hatte. Lampen aus geschliffenem, in Messing eingefasstem Glas, polierte Holztäfelung, kleine Gobelins, die unter ihren Füßen lagen – in so einer Kutsche konnte man wohnen.
    Heiraten Sie mich
, hatte er gesagt.
    Nell griff in ihre Tasche und tastete unter dem Taschentuch nach der Zehnpfundnote, die er ihr zum Beweis gegeben hatte, dass er es ernst meinte. Ein- oder zweimal hatte sie eine Banknote in der Hand gehabt, aber diese fühlte sich anders an, vielleicht weil sie so sauber war. Frisch und knisternd, als käme sie geradewegs aus der Bank.
    War es überhaupt wichtig, wer sie war? St. Maur meinte, dass die Leute es bedenkenlos glauben würden. Warum auch nicht? Sie sah ja wirklich aus wie dieses Mädchen.
    Sie schloss die Augen und holte tief Luft. Ihre Kehle war knochentrocken. Wenn er mit Hannah zurückkäme, vielleicht … Vielleicht würde sie ihm dann ein wenig Vertrauen schenken. Aber nur ein wenig. Wenigstens würde sie dann sehen, wo das alles hinführte.
    Minuten vergingen. Das Gefährt zitterte, wenn andere vorbeirollten. Schritte näherten sich der Kutsche, und die Tür schepperte unter drei heftigen Schlägen. Jetzt hörte sie eine wütende Stimme, die forderte, dass man die Tür öffnen und die Kutsche wegfahren solle, verdammte Frechheit, den Eingang zu blockieren. Sofort überschlugen sich zwei schrille Stimmen

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