Eine naechtliche Begegnung
wollte gerade klopfen, als die Tür wie von Magie aufging.
Nell Aubyn stand auf der Schwelle, und ihr erschrockener Blick passte perfekt zum leisen Keuchen des Hausmädchens. Sie trug ein weites, kurzärmliges Nachthemd mit einem Ausschnitt, der tief genug war, dass man die stark hervortretenden Schlüsselbeine sah.
Für einen Moment überrumpelte ihn dieser Anblick. Die Magerkeit gab zusammen mit dem blauen Auge ein verstörendes Bild ab. Selbst wenn man es völlig objektiv betrachtete, tat er diesem Mädchen einen Gefallen. Warum kam er sich dann plötzlich wie ein Schurke vor?
Rasch schob er den Gedanken beiseite. »Guten Abend«, sagte er und nahm das Tablett aus den schlaffen Händen des Hausmädchens, bevor er eintrat. »Das ist dann alles«, warf er ihr über die Schulter zu, während er den Eingang mit seinem Körper blockierte.
Die Tür fiel zu und schloss ihn mit seiner zukünftigen Braut ein – die jedoch einen Schritt zurückwich. Sie war eindeutig nicht vorbereitet auf traute Zweisamkeit. So müde und dürr sie auch aussah, das Bad hatte ihre angeborene Schönheit deutlicher zum Vorschein gebracht. Das nerzbraune Haar war von kupferfarbenen Strähnen durchzogen, die der Dreck überdeckt hatte. In nassen Wellen fiel es bis über die kantigen Ellbogen hinab, die Spitzen lockten sich auf der Höhe der Taille. Sie roch nach Rosen.
Der Geruch machte ihn wieder klarer. Es war ein Glück für sie, dass sie hergekommen war. Niemand würde sie schlecht behandeln. »Hat man Ihnen keinen Morgenrock gebracht?«, fragte er.
Sie schob den Kiefer vor und verzog das Gesicht. Kein schöner Anblick, aber irgendwie fesselnd. Alles an ihr wirkte übertrieben – als wäre sie ein kleines bisschen lebendiger als jeder, den er kannte.
»Er war kratzig«, sagte sie.
»Oh. Das geht natürlich nicht. Morgen wird eine Schneiderin kommen. Außerdem wird jemand zu Markhams gehen und für die erste Zeit etwas Konfektionsware einkaufen.«
Sie nickte müde, packte den Ausschnitt des dünnen Nachthemds und zog ihn etwas nach oben. Als sie danach Fäuste machte, durchfuhr ihn ein köstlicher Schock. Sie hatte Armmuskeln. Kleine, perfekt geformte Bizepse, die sich deutlich wölbten, während ihre Knöchel weiß wurden.
Er starrte sie offen an, damit sie sein Interesse bemerkte. Er hatte noch niemals Muskeln an einer Frau gesehen. Glatt, blass und rundlich, das waren die natürlichen weiblichen Eigenschaften. Nachgiebig, gepolstert. Die Muskulatur in Nells Armen wirkte obszön. Unnatürlich und faszinierend zugleich. Der Beweis für eine Realität, von der er nichts ahnte, für eine Geschichte, die er nicht kannte und die er sich nicht vorstellen konnte: ihr anderes Leben als ein Mädchen, das arbeiten ging, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Sie versorgte sich selbst, arbeitete für das Geld, mit dem sie Brot kaufte.
Simon blickte auf und war für einen Moment so geschockt, als hätte man ihn mit kaltem Wasser übergossen: Er sah in das Gesicht von Kitty Aubyn.
Kitty hätte gekreischt, wenn jemand sie in einem solchen Zustand der Nichtbekleidung gesehen hätte. Nell dagegen richtete sich auf und schob das Kinn vor. Wieder sah er die einzigartige Kraft ihres Willens, das blühende, kraftvolle Leben. Selbst ihr nasses Haar schien vor Lebendigkeit zu zittern, während sie ihn anstarrte.
Nell war nicht im Geringsten von ihm verunsichert.
Dabei wollte er sie verunsichern.
Am liebsten hätte er ihren Bizeps ganz vorsichtig zwischen die Zähne genommen und die Rosen abgeleckt, bis nur noch der Geruch ihrer Haut übrig war.
Er lächelte sie an. War vollkommen hilflos dagegen. Er war froh, dass sie bei ihm eingebrochen war, um ihn zu töten.
»Ich habe keinen Witz gemacht«, sagte sie. »Sie brauchen nicht so komisch zu gucken.«
Simon zuckte mit den Achseln. »Ich fürchte, ich selbst bin der Witz.« Unter den gegebenen Umständen war es unvermeidlich, dass sie ihn anzog. Aber seine primitive Natur spielte auch eine Rolle dabei. Er begehrte sie nicht trotz ihrer Muskeln, sondern gerade deswegen.
Wie um alles in der Welt hatte sie solche Kraft entwickelt? »Als was genau haben Sie gearbeitet?«, fragte er, als sie gleichzeitig den Mund öffnete und überstürzt sagte:
»Ich habe die Tür nur aufgemacht, um festzustellen, ob sie von außen abgeschlossen ist.« Dann hielt sie die Luft an und stieß dann hervor: »Ich habe nicht nach Gesellschaft gesucht oder mit Ihnen plaudern wollen.«
Er hielt inne. »Man kann diese
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