Eine naechtliche Begegnung
warm. Sobald genug drin ist, muss ich das Rohr wieder zudrehen und kaltes Wasser dazulaufen lassen.« Sie warf Nell einen Blick zu, der besagte, dass nicht alle Leute so viel Aufhebens verdienten, und strich dann das Handtuch im Korb glatt. »Seine Lordschaft ist sehr modern«, sagte sie steif.
»Das sehe ich.« Nell hätte wohl eher »magisch« gesagt. Sie konnte die Augen nicht vom sprudelnden Wasserhahn abwenden. Es floss wie ein Bächlein! Aus dem Wasserkran im Hof bei der Wohnung in Bethnal Green kam nur zwei- oder dreimal die Woche Wasser, und nie nach einem vorhersehbaren Plan. Außerdem war es ein dünnes braunes Rinnsal. Wenn jemand baden wollte, bedeutete das stundenlange Arbeit – man musste die Eimer füllen und die Treppe hinaufschleppen und außerdem einen Eimer über dem Feuer heiß machen, damit man im kalten Nass nicht erfror.
Und hier drehte man nur einen Hahn auf.
Sobald das warme Wasser etwa acht Zentimeter hoch stand, drehte das Hausmädchen es ab und das kalte Wasser auf. »Sie können sich jetzt auskleiden, Miss.«
Nell räusperte sich. »Vor dir?«
»Sicher, vor wem sonst?«, fragte das Mädchen mit scharfer Zunge. »Ich bin schließlich hier, um Sie zu baden, oder?«
»Ich glaube, ich kann mich allein waschen«, gab Nell zurück.
Die Hände in die Hüften gestemmt drehte das Hausmädchen sich um. »Aber das ist nicht richtig so. Da sind Seife und Lotionen und andere Dinge, die ich auftragen muss.«
Nell starrte sie an. »Bei Gott, Mädchen, hast du keine Selbstachtung? Mir war klar, dass Hausmädchen so ziemlich alles machen, aber du meinst ernsthaft, dass du einer Lady die Dose schrubbst?«
Das Mädchen klappte die Kinnlade hinunter. »Ich muss doch sehr bitten!«
»Du kannst bitten, worum du willst – und sicher tust du das auch! Aber bitte woanders, denn ich kann sehr gut allein baden!«
»Wirklich? Sie riechen nämlich nicht gerade so, als ob Sie das könnten«, gab das Mädchen zurück.
»Das ist ja wohl lächerlich! Ich rieche lieber nach Zwiebeln, als vor einem Reichen zu katzbuckeln. Hast du keinen Stolz? Warum bist du überhaupt in Stellung gegangen? Für seinen Unterhalt Sklavenarbeit verrichten – das kann ja wohl nicht deine Vorstellung von Leben sein!«
Das Mädchen schnappte hörbar nach Luft. »Ich stinke jedenfalls nicht nach Wurst und Zwiebeln, wie Sie sicher bemerkt haben, Miss!«
Nell verstummte. Dagegen konnte sie nichts sagen. »Du bist ganz schön streitlustig.« Diese Erkenntnis stimmte sie dem Mädchen gegenüber ein wenig freundlicher. »Schade, dass du keine eigene Meinung haben darfst. Halt deine scharfe Zunge lieber zurück, sonst wird sie dir noch abgeschnitten.«
Das Lachen des Hausmädchens klang ungläubig. »Aber sicher doch. Glauben Sie nicht, dass ich nicht wüsste, was Leute wie Sie über Mädchen in Stellung sagen. Ihr denkt, wir wären Hunde, stimmt’s? Während ihr in euren dreckigen kleinen Bruchbuden zu acht in einem Raum schlaft und die Pennys für Gin gegen die Kälte zusammenkratzt. Ist ja schön und gut, dass ihr euch zu eurer sogenannten Freiheit gratuliert, obwohl eure Kleider zerlumpt sind und ihr wie die Ratten im Dreck lebt!«
Was für ein trauriger Haufen falscher Informationen. »Du hast zu lange den Predigten der Reichen gelauscht, Schätzchen. So schlimm ist es nicht.«
Das Mädchen langte in den Korb und schnappte sich eine der Flaschen. Als sie den Korken rauszog und etwas von der klaren Flüssigkeit ins Wasser kippte, zog ein himmlischer Duft durch den Raum, irgendeine süße, durchtriebene Blume, die Nell an Mondlicht und eine warme Sommerbrise denken ließ. »Wenn ich das nächste Mal für Sie Sklavenarbeit verrichte, riechen Sie wenigstens besser«, murmelte Polly. Aber als sie sich wieder umdrehte, wanderte ihr Blick an Nells Gestalt hinunter, und sie runzelte auf eine Weise die Stirn, die Nell überhaupt nicht behagte. »Ich wette, ich könnte Ihre Rippen zählen.«
Nell kämpfte gegen den Impuls an, die Arme vor dem Bauch zu verschränken. »Und wenn schon.«
»Sie haben nicht ein Gramm Fleisch zu viel auf den Knochen. Wenn das Freiheit sein soll, nehme ich lieber mein Schicksal auf mich. Ich esse besser, ich schlafe besser und ich mache mir keine Sorgen über die Zukunft. Sagen Sie über mich, was Sie wollen, aber tun Sie nicht so, als hätten Sie und Ihre Freunde es nicht gern auch so bequem.«
Sie schob das Kinn hoch und ging an Nell vorbei aus dem Raum. Aber sie schlug nicht die Tür zu, wie es sich
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