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Eine naechtliche Begegnung

Eine naechtliche Begegnung

Titel: Eine naechtliche Begegnung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Meredith Duran
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er sie musterte. Seine Enttäuschung war so offensichtlich, dass sie sich eine hässliche Bemerkung verkneifen musste. Was konnte sie dafür, wenn er so dumm war zu glauben, die Leute würden ihr abnehmen, dass sie in diese Welt geboren war? Und Gott bewahre, falls es stimmte! Die Regeln hier waren scheußlich.
    »Das ist alles für heute«, fügte er hinzu, und als hätte er bei einem dieser mechanischen Schaukästen, die auf Jahrmärkten ausgestellt wurden, auf einen Knopf gedrückt, schoss Hemple vom Klavierhocker hoch, und Palmier schnellte zur Tür. Keiner von beiden hatte auch nur einen Zentimeter Rückgrat.
    Noch bevor sie den Raum verlassen hatten, fing sie an, sich zu verteidigen. »Meine Beine sind gar nicht das Problem. Dieser Froschfresser …«
    »Wie Mrs Hemple richtig sagte, sind Ihre Beine kein angemessenes Gesprächsthema.«
    Sie stutzte angesichts dieser kühlen Zurechtweisung. Die Tür schloss sich sanft hinter den Bediensteten, und Nell war mit ihm und der Stille allein. St. Maur legte die Hände auf den Rücken und schob das Kinn vor. Zweifellos erwartete er eine Entschuldigung, eine katzbuckelnde Bitte um Verzeihung, weil sie seine verdammten Erwartungen enttäuschte. Nun, da hatte er falsch gedacht! »Wenn Sie mich über Manieren belehren wollen, sollten Sie selbst mal welche ausprobieren«, sagte sie. »Leute wie Fliegen zu verscheuchen, ohne sie zu verabschieden …«
    St. Maur hob die Augenbrauen. »Der Dienerschaft schuldet man keine solche Höflichkeit.«
    »Dann ist es keine Höflichkeit«, sagte sie. »Wenn man sie nur bei bestimmten Leuten verwendet, ist es Heuchelei.«
    »Ein interessanter Blick auf die Dinge«, sagte er ruhig, »aber für unsere Absichten nicht von Bedeutung. Manieren sind nur ein Spiel, Nell. Und wie bei Spielen üblich, wendet man die Regeln in einigen Situationen an und in anderen nicht.«
    Eine ähnliche Logik hatte sie schon mal gehört. »Klingt nach den Regeln eines Betrügers.«
    »Meine Güte.« Er zog seine goldene Taschenuhr hervor und klappte sie auf. »Sie sind eine Moralistin?«
    »Mir ist Heuchelei zuwider«, sagte sie rundheraus. »Unterschiedlichen Menschen unterschiedliche Gesichter zu zeigen.« Sie hatte immer gewusst, dass die Welt nicht gerecht war, aber sie war nicht darauf vorbereitet selbst zu erleben, mit welcher Leichtigkeit die Wohlhabenden diese Ungerechtigkeit ignorierten. Sollten sie ihre Blindheit ruhig als gute Manieren verbrämen, aber Nell wollte nichts damit zu tun haben.
    Er ließ die Uhr zuschnappen und steckte sie wieder ein. »Wie weit werden Sie sich von dieser Abneigung leiten lassen?«, fragte er. »Wären Sie zum Beispiel eine Heuchlerin, wenn Sie lernen würden, Ihre Aussprache zu verändern?«
    »Das nehme ich an, wenn ich es wirklich versuchen würde.«
    »Aber wenn Sie wollen, sind Sie schon jetzt in der Lage, sich manierlich auszudrücken. Heucheln Sie dann jedes Mal?« Er lächelte. »Oder inspiriere ich Sie?«
    Sie zog ein Gesicht. Während der Gespräche beim Frühstück in dieser Woche hatte sie allmählich die Muster seiner aalglatten Logik erkannt. Er drehte ein Argument gern um und wandte es auf seinen Gesprächspartner an. Erst heute Morgen hatten sie eine vernünftige Diskussion über Caliban aus Shakespeares
Der Sturm
geführt. Aus ihrer Sicht war Calibans Unwissenheit keine Entschuldigung für ihn: Er war böse und verdiente den Tod, weil er versucht hatte, Miranda zu vergewaltigen. St. Maur hatte nicht widersprochen, hatte jedoch gefragt, ob ihrer Ansicht nach jemals mildernde Umstände für ein Verbrechen galten. Ob sie jemals in Versuchung geraten sei, jemanden, der ihr einen Gefallen getan hatte, aus Eigennutz zu bestehlen. Und wenn ja, warum?
    »Geht’s hier um das verdammte Taschentuch?«, hatte sie gefragt.
    »Nicht das Taschentuch«, war seine Antwort gewesen.
    Offensichtlich wusste er, dass sie das Tafelsilber geklaut hatte.
    »Ich schäme mich nicht für die Aussprache, mit der ich aufgewachsen bin«, antwortete sie jetzt. »Wenn ich zwei unterschiedliche Aussprachen beherrsche« – wenn ihr eine ziemlich brillante Imitation von Mums Akzent gelang – »heißt das noch lange nicht, dass ich die eine für besser halte als die andere.«
    »Ihre Meinung tut nichts zur Sache«, sagte er rasch. »Ich bitte Sie nur, sich an die Regeln zu halten. In den Kreisen, in denen Sie sich bald bewegen werden, hätte Ihr … üblicher Akzent eine ungünstige Wirkung. Auf eine Darbietung hinzuarbeiten, die zu diesen

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