Eine naechtliche Begegnung
die sich lächelnd zu ihr umdrehten. Hinterher Tanz im Pub. Ausgelassene Musik und Humpen voller Ale. Nur eine halbe Stunde nach Beginn der Feier würde der Bräutigam sie drängen, heimlich mit ihm zu verschwinden, und sie würden sich durch die Hintertür davonstehlen, um dem Gejohle der Burschen zu entgehen. Im ersten dunklen Raum, in dem sie allein sein könnten, würden sie einander in die Arme fallen.
Bei den Blaublütern ging es anscheinend anders zu. Zuerst kam eine steife Feier in einem der Salons, wo die Dienerschaft auf den Herrn und die neue Herrin anstieß und sich über einen halben Urlaubstag freute. Dann gab es ein formelles Dinner im Esszimmer, bei dem Simon ihr unaufmerksam und überhöflich vorkam, als wäre sie eine Fremde, die er zufällig vor dem Altar kennengelernt hatte. Nach dem Essen zog er sich in sein Arbeitszimmer zurück, was er bisher nie getan hatte, und Nell ging die Treppen allein hinauf.
Sie war nicht nervös, nicht einmal, als Sylvie mit skandalösen Bekleidungsstücken im Schlafzimmer auf sie wartete – Morgenrock und Nachthemd aus weißer Seide, so tief ausgeschnitten, dass man nicht zu schnell aufstehen durfte, weil man befürchten musste, dass einem der Busen vorn hinausrutschte. »Hören Sie schon auf, rot zu werden«, sagte sie zu Sylvie, während sie es anzog. Ein Kostüm zum Vögeln, wozu bitte sollte das gut sein? Jede Mutter auf der ganzen Welt hatte es auch ohne das hingekriegt.
Schließlich zog sich die Zofe zurück, und Nell blieb in der tiefen, zähflüssigen Stille des Hauses allein zurück. Sie verbrachte eine Minute vor dem Spiegel und sah sich an. Ihr Gesicht war in den letzten Wochen ein wenig rundlicher geworden, sie hatte an den Armen zugenommen, und die gelben Tabakflecken an ihren Fingern waren verblasst. Bald würden sich an ihrem Körper keine Anzeichen ihres früheren Lebens mehr finden. Sie war aufgedonnert wie eine Hurenbraut, ganz in Weiß, aber kaum bekleidet.
Unruhig ging sie in ihr Wohnzimmer, nahm sich ein Buch und rollte sich damit auf einem Sessel zusammen. Aber die Sätze – eine unterhaltsame Historie zur Zeit der alten Perser – ergaben keinen Sinn, auch wenn die Sprache nicht schwierig war.
Nell legte das Buch weg und konzentrierte sich für eine Weile nur auf ihre Atmung. Ihr Blick strebte ständig in eine bestimmte Richtung, doch sie zwang sich, das Feuer zu betrachten, das so fröhlich im blau gekachelten Kamin brannte, in diesem lieblichen, luxuriösen Raum mit goldverzierten Wänden und einer Deckenbemalung, die einem Sommerhimmel nachempfunden war. Sie war ganz ruhig.
Die Tür auf der anderen Seite des Raums – die Tür, die zu den Gemächern seiner Lordschaft führte (Polly hatte es ihr beiläufig erzählt) –, blieb geschlossen.
Sie zwang sich, weiterzulesen. Erst als die gedämpften Schläge der Uhr im Gang elf Uhr verkündeten, hörte sie ein Klopfen. Unwillkürlich schlang sie ihre Finger fester um das Buch. Es gab keinen Grund für Nervosität, aber ihre Stimmbänder schienen das nicht zu begreifen.
Es klopfte wieder.
Sie kniff sich, ein stechender kleiner Schmerz. Wie dumm, nervös zu sein! »Es ist offen«, krächzte sie.
Die Tür öffnete sich nach innen. »Du hast ganz schön lange gebraucht, um zu antworten«, bemerkte St. Maur.
Sehr romantisch
. Nell musterte ihn. Anscheinend trug der Mann keine besondere Kleidung. Er sah etwas demontiert aus. Das feine Halstuch war weg, die dunkelgraue Weste hing lose an ihm herab. Der offene Kragen des schneeweißen Hemdes entblößte den Hals und den Ansatz der schwarzen Brustbehaarung. Kein Jackett.
Hinter ihm sah sie die dunklere Möblierung seines Wohnzimmers, einen Orientteppich in Bronze und Grün, eine niedrige, mit kastanienbraunem Samt bezogene Chaiselonge. Maskuline Farben. Auch bei ihm brannte ein Feuer.
Sie sah auf das Buch, dann wieder zu ihm. Ihr Körper hatte anscheinend den natürlichen Atemrhythmus vergessen. Als sie das Buch weglegte, wurde sie sich über ihre Stimmung klar: Sie war verärgert. »Ich habe gewartet«, sagte sie. »Du bist derjenige, der zu spät ist.«
Er lächelte leicht, schob seine Hände in die Taschen und ließ seine Schulter gegen den Türrahmen fallen. Er war so absolut zu Hause in diesem Wohlstand, besaß all den Reichtum auf so lässige Art. Ein düsteres Gefühl stieg in ihr auf. Er stand nur ein paar Meter entfernt, aber es gab eine subtilere Distanz zwischen ihnen, die sie vielleicht niemals überwinden könnten. Sosehr er es
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