Eine private Affaere
Überraschungen. Zwei sehr seltsame, sehr interessante Überraschungen. Die Polizeiberichte sind gestern eingetroffen. In denen wimmelt’s zwar nicht gerade von Beweisen, aber es würde gerade reichen, um sie die letzten Jahre ihrer Jugend im Gefängnis schmoren zu lassen. Wenn sie dann rauskommt, ist sie verkalkt, und ihr Körper verfallen.«
»Okay, was ist die erste Überraschung?«
»Das hier. Dieses jämmerliche Ding, das einen Augenzeugenbericht darstellen soll.«
Er nahm ein einzelnes Blatt Papier von dem Stapel Dokumente auf seinem Schreibtisch. Alle Unterlagen trugen die Insignien der Metropolitan Police. Das Blatt Papier, das er mir überreichte, war eine Zeugenaussage auf einem Standardformular. Oben standen der Name des Zeugen, der Name des Polizeibeamten, der die Aussage aufgenommen hatte, Zeit und Datum, Ort und Adresse, Alter und Beruf des Zeugen. Am Ende des Dokuments befand sich eine Zeile, auf der der Zeuge unterschreiben mußte, um sicherzustellen, daß der Aussage später nichts mehr hinzugefügt werden konnte. Normalerweise sind die Blätter einer Zeugenaussage sorgfältig numeriert, doch in diesem Fall lag nur ein einzelnes Blatt vor.
Wie Feinberg gesagt hatte – das Ding war ziemlich jämmerlich ausgefallen. Ein zehnjähriger Junge, durch einen Streit seiner betrunkenen Eltern aufgewacht, war um drei Uhr früh aus dem Haus geschlüpft. Als er um eine Ecke ging, sah er in ungefähr dreihundert Metern Entfernung die Umrisse zweier Menschen im Schein einer Straßenlaterne. Der eine schien auf den anderen einzureden, der vor ihm herging. Der Bettelnde ging auf die Knie; der andere drehte sich um und zielte mit einer Pistole auf ihn. Ein Schuß war zu hören, und der Kniende sackte in sich zusammen. Der andere ging zu einem Wagen, der in ungefähr hundert Metern Entfernung abgestellt war, das heißt also vierhundert Meter von dem Jungen weg, und fuhr in die entgegengesetzte Richtung davon. Auf die wesentliche Frage »War der Angreifer groß oder klein, ein Mann oder eine Frau?« konnte der Junge keine Antwort geben. Er war leicht kurzsichtig und hatte in dem Licht nur Silhouetten gesehen – ein Schattenspiel vor dem Hintergrund einer trostlosen Londoner Straße. Auf die Entfernung konnte er sich nicht einmal eine Vorstellung von der Größe und dem Gewicht der beiden Leute machen. Sie hätten Zwerge oder auch Riesen sein können. Der Junge war aufgrund der sozialen Programmierung, die Daisy so sehr verachtete, davon ausgegangen, daß es sich bei dem Angreifer um einen Mann handelte. Nach sorgfältiger Befragung jedoch hatte der Junge zugegeben, daß diese Annahme eher etwas mit Vorurteilen als mit seiner Wahrnehmung zu tun hatte. Ich legte die Aussage weg. Ich war mir sicher, daß man den Jungen nicht als Zeugen aufrufen würde.
»Sehr interessant, finden Sie nicht?«
Ich zuckte mit den Achseln. »Eine nutzlose Aussage; sie beweist nichts.«
Feinberg starrte mich an. Ich wandte den Blick ab.
»Und wo ist die andere Überraschung? Sie haben gesagt, es gäbe zwei.«
»Sie haben Nigel Monkson mit dem Fall beauftragt.«
Ich musterte Feinbergs Gesicht, um zu sehen, ob das ein sadistischer Scherz sein sollte.
»Monkson?«
Er grinste. »Ich hab’ heut’ morgen mit seinem Clerk telefoniert. Es ist tatsächlich wahr.«
Ich lächelte zurück. Nigel Monkson, Q. C, war der Clown der englischen Gerichte, ein harmloser Narr, der sich mehr für Männermode als die Juristerei interessierte. Seine Verbindungen zum ländlichen Adel und einem konservativen Lord Chancellor hatten ihn ziemlich spät zum Queen’s Counsel gemacht; Solicitors und Richter nahmen ihn nicht ernst. Er schien juristische Feinheiten so wenig zu begreifen, daß sich die Geschworenen über seine ungespielte Naivität vor Lachen bogen. »Euer Ehren, wenn ich ihn richtig verstehe, beschuldigt mein gelehrter Freund meinen Mandanten zu flunkern«, gehörte zu seinen bekanntesten Aussprüchen. »Ach, das scheine ich falsch verstanden zu haben«, lautete ein weiteres Bonmot. Und zu allem Überfluß geriet er auch noch ins Lispeln, wenn er aufgeregt war, was bei den Geschworenen jedesmal für einen Lacherfolg sorgte.
»Tja, vielleicht könnten Sie mir sagen, was George Holmes eigentlich vorhat«, sagte Feinberg mit gerunzelter Stirn, und seine Gesichtsmuskulatur begann wieder zu zucken.
»Ich habe keine Ahnung, Cyril«, antwortete ich. Er haßte es, wenn jemand ihn Cyril nannte.
[35]
Aus Gründen, die George Holmes für sich
Weitere Kostenlose Bücher