Eine private Affaere
treffen.
»Sie dürfen mich nicht in den Chambers anrufen, das ist gegen die Regeln«, sagte ich. »Und Sie können auch nie wieder mein Mandant sein – ist das klar?«
Er trug einen schlecht sitzenden Anzug aus dickem, grauem Wollstoff und eine nachlässig gebundene Wollkrawatte. Der oberste Knopf seines Hemds war offen, doch die Haare hatte er sich gekämmt.
Als er aufstand, sah ich, daß seine rechte Hand verbunden war.
»Hat ’n bißchen Zoff gegeben«, sagte er. »So ’n Typ im Pub hat gesagt, ich bin ’n Spitzel, da hab’ ich ihm ’ne Abreibung verpaßt.«
»Zoff«, »Spitzel«, »Abreibung« – das war eine fremde Sprache, die von einer anderen Rasse auf der südlichen Seite des Flusses gesprochen wurde. Wenn er nur gesagt hätte, er habe eine Schlägerei angefangen, weil jemand ihn beschuldigt hatte, ein Informant der Polizei zu sein, hätte er mich enttäuscht. Genau wie bei vielen anderen Dingen liegt der Reiz des Verbrechens in der Verpackung.
Der Verband sah frisch aus. Ich konnte mir die Szene vorstellen: Eine Gruppe von Desperados in einem Pub, angesäuert vom Alkohol, warf Thirst Beleidigungen an den Kopf. Und Thirst beschloß, nur so zum Jux, Anstoß daran zu nehmen. Wie heftig hatte er zugeschlagen? War der andere jetzt im Krankenhaus?
»Tatsächlich? Ein Spitzel?«
Die verdammte, merkwürdig poetische Welt, in der er lebte, vielleicht auch seine mangelnde Anpassung daran, faszinierte mich. Zumindest das hatten wir gemeinsam. Ich hatte den Bericht seines Bewährungshelfers und eine kurze Notiz eines Psychiaters gelesen.
Außergewöhnlich intelligent. IQ 140. Schwierige Kindheit. Unternimmt immer wieder Versuche, sich anzupassen. Die nächsten Jahre sind wesentlich. Kriminelle Psychose wahrscheinlich, wenn sich kein kreatives Ventil für seine Energie und sein Talent findet.
Der Bericht des Bewährungshelfers war ähnlich zwiespältig; Hochachtung vor dem Potential meines Exmandanten und Angst vor den Konsequenzen, wenn es ihm mißlang, sich einzugliedern.
Thirst beantwortete meine Frage mit einem verstohlenen Blick, als ich ihn an den Pennern vorbei zum Victoria Embankment und zur Waterloo Bridge dirigierte.
»Ich nehme an, Sie haben sich im Temple mit Ihrem neuen Anwalt getroffen?«
Er grunzte. »Ist nichts Besonderes. Ich bekenne mich schuldig. Ich brauch’ jemanden, der sagt, daß ich eigentlich ’n guter Junge bin – wie heißt das?«
»Ein Gesuch um Strafmilderung.«
»Yeah. Kinderkram, nix für ’n wichtigen Mann wie Sie.«
»Mein Gott, ich bin auch gar nicht auf Arbeit aus. Ich habe mich bloß gefragt, wieso Sie hier im Temple sind und warum Sie mich angerufen haben.«
Ich ließ den Blick über die Straße vor uns schweifen. Warum machte ich das? Jeden Moment konnte mich jemand von den Chambers sehen; viele Barristers fuhren von der Waterloo Station nach Hause und gingen über die Brücke. Niemand würde mich ansprechen, aber ein leicht fragender Ausdruck würde sich auf dem Gesicht des Betreffenden ausbreiten – ein Körnchen Schmutz, das wachsen würde. Wie konnte ich ihn loswerden?
Auf halber Höhe der Brücke blieb ich an der Stelle stehen, an der ich immer verweile. Vielleicht läßt sich aufgrund der Richtung, in die ein Londoner schaut, wenn er die Themse überquert, etwas über ihn sagen. Ich schaute immer nach Osten, wo knapp achtzig Kilometer flußabwärts die offene See wartete, die traditionelle Route für Generationen von Engländern auf der Suche nach Fluchtwegen. Thirst lehnte sich gegen die Brüstung und sah mir zugewandt ins Landesinnere. Ich bin kurzsichtig; erst jetzt war ich ihm nahe genug, um wieder seine ständig zuckenden Gesichtsmuskeln wahrzunehmen, die kritische Aufmerksamkeit in seinen leuchtend braunen Augen. Meine Verärgerung ließ etwas nach. Gab es nicht ein Recht auf freien Umgang? Wie entmenschlichend mußte sozialer Ehrgeiz sein?
»Tja, was kann ich also für Sie tun?«
»Wollt’ bloß ’nen Rat, das ist alles. Hab’ mir gedacht, Sie sind aus ’m selben Viertel und so, da könnten Sie mir vielleicht helfen.«
»Wobei?«
»Wissen Sie, ich hab’ nie Ihre Möglichkeiten gehabt …«
»Bitte nicht auf diese Tour, sparen Sie sich die für Ihren Sozialarbeiter auf. Wir kommen aus demselben Viertel. Ich bin vier Jahre älter als Sie, gehöre mit anderen Worten derselben Generation an. Sie hatten genau die gleichen Chancen wie ich.«
»Und wie kommt’s dann, daß Sie da oben sind und ich in der Scheiße? Weil Sie besser sind
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