Eine private Affaere
Rassismus in der Kirche diskutiere Er habe vor, an jedem der vier Wochenenden Freunde einzuladen. Ob auch wir kommen wollten? Und welches Wochenende uns passen würde? Er fügte noch ein Postskriptum hinzu: Dort ist alles so friedlich, daß Streß und Wut einfach dahinschmelzen und man die Kunst der Sanftmut wiederentdeckt.
Ich entschied mich für eine grobe Antwort und hoffte, daß Daisy sich meiner Entscheidung anschließen würde, doch sie wollte hinfahren. Sie empfand keinen instinktiven Abscheu gegen Geselligkeit, und für sie war so ein Wochenende auf dem Land keine Pflichtübung wie für mich. Außerdem hatte sie genug vom Winter in der Stadt, von dem Mief in unserem winzigen Zimmer, dem Dreck in der U-Bahn, der feuchten Kälte Londons, die in alle Glieder drang, egal, wie viele Pullover man anzog. Ihre Kindheit (im Winter Skifahren in Colorado, im Sommer Privatstrände oder Yachten von Freunden ihres Vaters in Maine oder Massachusetts) hatte sie nicht auf die klaustrophobischen Gefühle vorbereitet, denen man im Januar in London ausgesetzt ist. Daß wir uns deswegen stritten, hatte genausoviel mit der Beschränkung unseres jeweiligen persönlichen Freiraums zu tun wie mit unserer unterschiedlichen politischen Auffassung. Und außerdem fand sie Hogg sehr nett.
»Bitte, Jimmy, laß uns hinfahren.«
»Und was machst du dafür?«
»Alles.«
Sie hielt Wort.
Unsere Auseinandersetzungen wurden oft so beigelegt.
So fuhren wir also eines schönen Samstags im Februar mit der U-Bahn zur Tower Bridge und gingen mit unseren Reisetaschen zu Fuß zum Bahnhof an der Fenchurch Street. Fenchurch, the Tower, East Cheap, Elephant and Castle – diese Namen gehörten genauso zu meiner Kindheit, wie Belsize Park und Temple Teil meiner Gegenwart waren.
»Ich weiß noch, wie das ganze East End in Southend-on-Sea Urlaub gemacht hat«, erzählte ich Daisy. »Im Bahnhof an der Fenchurch Street hat es früher von Cockneys nur so gewimmelt, von Männern mit Anzügen, aber ohne Krawatten, Frauen in Tupfenkleidern mit tiefer Taille und Kindern wie mir, die sich Süßigkeiten teilten. Und wir alle hofften, von einem Tag am Meer knackig braun zu werden. Meine Mum hat mir immer Zuckerstangen gekauft, wo innen drin ›Southend‹ stand, egal, von welcher Seite man davon abbiß. Und damals gab’s einen kleinen Zug, mit dem man raus bis ans Ende des längsten Piers der Welt fahren konnte – jedenfalls stand das drauf.«
»Manchmal verstehe ich dich nicht«, sagte Daisy.
»Bitte fang nicht damit an. Bitte.«
Wir waren allein in dem Wagen. Ich ließ meine Hand unter ihren Pullover gleiten und streichelte ihre Brüste durch den ungewöhnlich starren Büstenhalter, den sie trug. Sie wehrte sich nicht, wartete, bis ich die Hand wieder herauszog.
»Du weichst mir aus mit deinem Gesülze und deiner Fummelei. Ich möchte wissen, warum du deine Herkunft verraten hast.«
Ich kämpfte meine Wut nieder. Was für ein Recht hatte sie, ein Urteil über mich zu fällen? Was hatte sie denn schon Großes geleistet? Sie hatte die Schule weit unter ihren Fähigkeiten abgeschlossen und arbeitete jetzt als Aushilfslehrerin, halbherzig wie immer. Sie meldete sich krank, damit sie einen Spaziergang über Hampstead Heath machen, einen Joint rauchen und in eine Traumwelt abdriften konnte.
»Daisy, du weißt nichts über meine Herkunft, abgesehen von dem, was ich dir erzählt habe. Du weißt nicht, wie das ist, wenn man auf der falschen Seite der Gleise geboren ist.«
»Auf der falschen Seite der Gleise? Wir schreiben das Jahr neunzehnhundertsiebenundsiebzig, und er redet von der falschen Seite der Gleise! Die Gleise existieren bloß in deinem Kopf! Nach der Revolution schicken sie dich für zehn Jahre auf eine Schweinefarm auf den Hebriden, bis du die richtige Einstellung gefunden hast.«
»Von welcher Revolution reden wir?«
Sie machte einen Schmollmund. »Von der Revolution der Frauen.«
»Ach so.«
»Ja, genau.«
»Du meinst, wenn wir alle nett und freundlich zueinander sind, nur noch vegetarisch essen und Kaffee aus Nicaragua trinken?«
Sie stieß mir den Ellbogen in den Solarplexus und drehte sich um, um mir ins Gesicht zu schauen.
Dann gab sie mir eine Ohrfeige. »Du bist so verdammt schlau – mit dir kann man einfach nicht streiten. Das Problem ist, daß du an nichts von dem glaubst, woran ich glaube. Wir sind politisch inkompatibel.«
»Vielleicht, aber wahrscheinlich würde ich trotzdem auf einer Schweinefarm auf den Hebriden
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