Eine Rose im Winter
mich losgegangen. Ich habe mir gedacht, daß das vielleicht seine waren.« Der Gedanke an die Bestien mit ihren scharfen Fangzähnen ließ sie erschauern.
»Ach, die Viecher gehörten wahrscheinlich jemand anderem, der hier auf dem Land seiner Lordschaft jagte. Hier gibt es immer 'ne Menge Wilderer. Wir hab'n schon immer Ärger mit ihnen gehabt, schon bevor der Seitenflügel abbrannte. Besonders mit diesem Teufelskerl von Timmy Sears. Ich glaube, ich kann mich erinnern, daß er eine Meute Hunde hatte, die ihre Fänge genauso gern in einen Menschen schlugen wie in das Wild, das sie jagten.«
»Ich fürchte, sie verwechselten mich mit einem Stück Wild«, murmelte Erienne. Sie trank aus der Tasse und versuchte ein Lächeln. »Schönen Dank für den Tee … Madam … ah …«
»Frau Kendall ist mein Name, M'am, Aggie Kendall. Ich bin die Haushälterin. Die meisten meiner Verwandten sind hier im Haushalt angestellt, und ich sag' Ihnen ganz offen, wir sind eine prima Mannschaft: meine Schwestern und ihre Töchter, zusammen mit meinen eigenen Töchtern und meinem Mann mit seinem Bruder. Dann ist da noch der Stallmeister mit seinen Söhnen. Die arbeiten draußen. Sie kommen hier von des Herrn Land.«
Erienne versuchte sich ein Bild von dem Herrn zu machen, doch während ihrer Fieberträume hatte sie versäumt, den schwarzen Schatten, den sie in Erinnerung hatte, mit einem Gesicht zu versehen. »Und wo ist Lord Saxton jetzt?«
»Oh, er ist für eine Weile verreist, M'am. Er fuhr weg, kurz nachdem wir hier angekommen waren. Er hat uns gesagt, daß wir uns um Sie kümmern sollen, bis Sie sich wieder besser fühlen, und dann wird die Kutsche Sie zu Ihrem Vater zurückbringen.«
Erienne setzte ihre Tasse ab. Plötzlich überkam sie ein Gefühl großer Angst. »Ich würde lieber nicht nach Mawbry zurückgehen. Wenn das nicht zu große Umstände macht, möchte ich … würde ich es vorziehen, wenn man mich woanders hinbringen könnte. Es spielt keine Rolle wohin.«
»O nein, M'am. Der Herr besteht darauf, daß Sie wieder zu Ihr'm Vater zurückkommen. Wenn Sie bereit sind, komm'n Sie direkt in' Wagen und wer'n bei ihm abgeliefert.«
Erienne starrte die Frau an und fragte sich, ob sie oder dieser Lord Saxton wirklich wußten, wohin sie sie zurückschickten. »Sind Sie sicher, daß Ihr Herr wirklich wollte, daß ich zu meinem Vater zurückgebracht werde? Könnte da nicht ein Missverständnis vorliegen?«
»Tut mir leid, M'am. Die Anweisungen Seiner Lordschaft waren ganz klar: Sie soll'n zu Ihrem Vater zurück.«
Von bitterer Verzweiflung übermannt warf Erienne sich in die Kissen. Es war ein wahrhaft trostloser Gedanke, daß sie, nachdem sie erfolgreich ihrem Erzieher entkommen war, durch die Laune eines Mannes wieder zurückgebracht wurde, den sie noch nicht einmal kennen gelernt hatte. Es war gewiß ein grausames Schicksal, das sie hierher gebracht hatte. In der Tat, wäre Sokrates durch das Bellen der Hunde nicht völlig in Verwirrung geraten, hätte Lord Saxton sie wahrscheinlich überhaupt nicht gefunden. Sie würde vielleicht nicht überlebt haben, doch im Augenblick schien es ihr besser, tot zu sein, als mit Harford Newton oder Smedley Goodfield verheiratet zu werden.
Aggie Kendall fand keine Worte, mit denen sie das Mädchen mit den Befehlen ihres Herrn hätte versöhnen können und zog sich schweigend zurück. Erienne war tief in Gedanken versunken, so daß sie das Weggehen der Frau kaum bemerkte. Vollkommen erschöpft durch das körperliche und seelische Leiden verbrachte Erienne ganz niedergeschlagen den Rest des Morgens im Bett, und nur gelegentlich unterbrach Schlaf ihr Weinen.
Zu Mittag wurde ein Tablett hereingebracht, und obwohl sie fast keinen Appetit hatte, zwang sie sich zum Essen. Das Essen half, ihre ermatteten Lebensgeister zu beleben, und sie fragte Aggie, ob man vielleicht den Wasserbottich füllen würde, so daß sie ein Bad nehmen könnte.
»Soll mir'n Vergnügen sein, das selbst zu machen, M'am«, war die freundliche Antwort der Haushälterin. Besorgt, ihr zu Diensten zu sein, öffnete sie die Schranktüren und nahm einen dünnen Morgenrock heraus, der Erienne bekannt vorkam. Sie sah an der Haushälterin vorbei und mußte zu ihrer Überraschung entdecken, daß man ihre eigenen Kleider hineingelegt hatte. Aggie folgte ihrem Blick und beantwortete ihre unausgesprochene Frage. »Der Herr muß sie hier hineingelegt haben, M'am.«
»Hat er diese Räume für mich freigemacht?« Erienne stellte
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