Eine Rose im Winter
viele Monate oder auch Jahre ohne Dienstboten leer gestanden hatte. An den gewölbten Decken der Gänge hingen viele Spinnweben in verwirrenden Mustern, und die Möbel, an denen sie vorbeikam, waren schon vor langer Zeit mit weißen Bezügen bedeckt worden, die inzwischen eine graue Schmutzschicht überzogen hatte. Sie ging weiter und fand sich auf einmal am oberen Ende einer Treppe, die in breiten Stufen um eine viereckige, mit muschelförmigen Nischen verzierte Mittelsäule nach unten führte. Unten gelangte sie in einen Raum, der wie das Innere eines großen, runden Turmes aussah. Zu ihrer Linken entdeckte sie ein schweres hölzernes Tor mit einem wuchtigen Schloß, das den Eingang zum Herrensitz bildete. Eine kleine, mit Bleiglas verschlossene Öffnung erlaubte einen Blick auf den breiten gewundenen Weg, der sich neben dem Tor dahinzog.
In der anderen Richtung öffnete ein kurzer, gewölbter Durchgang den Weg in einen großen Raum. Eine junge Frau war damit beschäftigt, den Steinfußboden zu scheuern. Sie erhob sich, als Erienne langsam durch den Raum ging, knickste höflich, als sie sie etwas fragte und zeigte mit dem Arm nach hinten.
Erienne folgte der von dem Mädchen angegebenen Richtung und dem Geräusch unterdrückter Stimmen. Sie stieß eine schwere Tür auf und fand die Haushälterin und noch drei andere Frauen eifrig damit beschäftigt, die altertümliche Küche wieder in einen brauchbaren Zustand zu verwandeln. Ein junger Mann kniete im Kamin und schabte alte Asche und ganze Rußstücke von den Wänden. Ein alter Mann versuchte einen riesigen Kupferkessel wieder blank zu reiben. Der Koch hatte bereits einen Tisch freigemacht und war dabei, für das Abendessen Wildbret und Gemüse herzurichten.
»Einen schönen guten Abend, M'am«, begrüßte sie die muntere Haushälterin, während sie sich ihre Hände an der langen weißen Schürze abrieb, »Is' 'ne Freude, Sie wieder auf'n Beinen zu sehn. Fühl'n Sie sich wieder munter?«
»Schon besser, danke.« Erienne sah sich um, und wenn sie auch nicht erwartete, den Herrn in der Küche zu finden, so hoffte sie doch herauszufinden, wo er war. »Ist Lord Saxton noch nicht zurück?«
»O nein, M'am.« Die Frau kam langsam über den Steinfußboden auf sie zu. »Der Herr hat gesagt, er wird für einige Tage weg sein.«
»Ach so.« Tief enttäuscht stieß Erienne einen Seufzer aus. Sie würde also noch keine Möglichkeit haben, ihm ihren Fall vorzutragen, bevor die Dienstboten sie zu ihrem Vater zurückbrächten.
»Madam?«
Erienne sah auf. »Was ist denn?«
»Brauchen Sie vielleicht irgen'was?«
Sie wartete unschlüssig und sagte dann: »Nein, im Moment nicht. Wenn es Ihnen nichts ausmacht, möchte ich gern etwas umhergehen und mir das Haus ansehen.«
»Oh, selbstverständlich, M'am«, erwiderte Aggie. »Müssen's mir nur sagen, wenn Sie irgen'was brauchen, ich hab' hier noch 'ne Weile zu tun.«
Erienne nickte abwesend und kehrte zu dem großen Raum zurück. Das Mädchen war mit ihrem hölzernen Eimer verschwunden, doch die Scheuerbürste lag noch in einer Wasserlache auf dem Boden, ein Zeichen, daß das Mädchen gleich zurückkommen würde. So wie das Haus aussah, konnte man sich leicht vorstellen, daß die Bediensteten noch einige Zeit beschäftigt sein würden, um alles in Ordnung zu bringen. Ein plötzlicher Gedanke schoß Erienne durch den Kopf: Sie alle hatten so sehr mit ihrer Arbeit zu tun, daß es ihnen vielleicht gar nicht auffallen würde, wenn sie verschwand.
Es war ein Einfall aus der Verzweiflung geboren. Erienne vergaß ihre Schwäche und ihre immer noch schmerzenden Glieder. Dazu genügte die Vorstellung, daß, wenn es ihr jetzt nicht gelang zu fliehen, eine hohe Wahrscheinlichkeit bestand, sich als Ehefrau von Harford Newton, dieser grauen Maus, oder Smedley Goodfield, diesem schmierigen Lüstling, wieder zu finden. Sie öffnete das große Portal und hielt erschreckt inne, als ein lautes verräterisches Quietschen der Türangeln zu hören war.
Sie wartete mit klopfendem Herzen, bis sie sicher war, daß ihr niemand folgte. Vorsichtig spähte sie hinaus und entdeckte die Stallungen am westlichen Ende des Hauses. Der hintere Teil einer großen schwarzen Kutsche war zwischen den weitgeöffneten Toren zu sehen. Von ihrem Platz aus schien es einfach zu sein, in den Stall zu gehen und nachzusehen, ob Sokrates dort war.
Sie war gerade im Begriff durch das Tor zu treten, als ein junger Mann mit einem Holzeimer und einer langstieligen Bürste
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