Eine Sacerda auf Abwegen
als die Jüngere von uns beiden deine Natur besser kenne als du selbst,
aber ich werde dieses Wissen nicht gegen dich verwenden. Soweit solltest du
mich inzwischen kennen… Du müsstest es spüren, weil du gelernt hast, dich auf
deine Instinkte zu verlassen. Du hättest sonst niemals so lange unerkannt
überlebt schon gar nicht in den letzten Jahren, da sich so viel in der Welt der
Immaculate geändert hat.“
Sie musste einen Moment in ihrer eifrigen Rede innehalten, weil sie ohne Luft
zu holen gesprochen hatte, fordernd und bittend zugleich. Und voller Angst, er
könnte das größte Geheimnis ergründen, das sie ihm nicht offenbaren konnte. Er
würde ihr nicht glauben oder schlimmer noch auf und davon gehen. Es ging ihr
nicht darum, dieses Märchen von der Seelenverwandtschaft wahr werden zu lassen.
Dafür war es für sie beide vielleicht schon viel zu spät, dennoch konnte sie
daraus trotzdem etwas Gutes entstehen lassen. Sie konnte es zumindest
versuchen, um für ihn einen Unterschied zu machen.
Juno ließ langsam locker und Chadh würde spüren können, dass ihre Hände
unvermittelt zu zittern begonnen hatten. Die aufsteigende Erkenntnis traf sie
so hart wie ein Schlag ins Gesicht, den er jedoch nicht ausgeführt hatte. Und
auch niemals ausführen würde, sie vertraute ihm wirklich.
„Du bist auch
etwas Besonderes für mich, Chadh… Du hast mir mein Leben zurückgegeben, als ich
es endgültig aufgeben wollte und die letzten Mauern eingerissen, die ich um
mich herum aufgebaut hatte… Du zwingst mich zur Einsicht, die ich jahrelang mit
aller Macht vermieden habe… Du hast mir am Anfang vorgeworfen, ich wäre kalt
und grausam und du hast völlig Recht damit. Ich habe es nur nicht sehen wollen…
Ich habe damals ein Kind geboren und es einfach im Stich gelassen. So wie du
hatte ich mich gegen dieses Gefühl entschieden, es durfte nicht sein,
weil es mein Leid einfach nur ins Unerträgliche gesteigert hat. Ich musste den
sterblichen Mann aus meinem Leben vertreiben, weil eine Beziehung zu ihm nach
meiner Umwandlung einfach nicht mehr möglich war. Ich wusste, dass das Kind ein
Leben als normaler Mensch führen konnte, also gab ich sie zu ihrem Vater.
Damals war ich innerlich so abgestumpft, dass es mir nicht einmal viel
ausmachte. Die Reue kam erst später, viel zu spät. Ich schrieb ihrem Vater,
warnte ihn vor den Gefahren, die auf sie lauern könnten, aber ich blieb vage,
weil er mir wahrscheinlich niemals geglaubt hätte, dass Vampire tatsächlich
existieren. In jedem Fall fand meine Tochter einige dieser Schreiben nach dem
Tod ihres Vaters und machte sich auf den Weg in die Staaten… Sie verliebte sich
hier ausgerechnet in einen Immaculate… Ich habe sie letzte Woche zum ersten Mal
getroffen und ihr nicht mehr geboten als eine Fassade der Gleichgültigkeit. Du
hast mich jetzt wachgerüttelt, Chadh… Es ist nicht richtig, was ich getan habe
und schon gar nicht das Verhalten, das ich ihr gegenüber an den Tag gelegt
habe. Wenn ich mich weiterhin so abweisend verhalte, dann stelle ich mit der
Frau auf eine Stufe, die dir so übel mitgespielt hat. Für mütterliche Gefühle
ist es sicher schon zu spät, aber ich werde versuchen, mich ihr begreiflich zu
machen und mich entschuldigen, wenn sie das möchte…“
Juno ließ sich auf ihre Unterschenkel zurück gleiten und nahm die Hände von
seinem Gesicht, um damit das ihre kurz zu bedecken. Es war, als spürte sie
plötzlich all die Gefühle auf einmal, die sie in der Nacht hätte durchleben
sollen, als sie ihr Kind gleich nach der Geburt bei Bertrand zurückgelassen
hatte.
„Ich weiß so
viel über dich, weil ich selbst Sidonie niemals diesen ersten Schluck Blut von
mir gegeben habe…Ich wusste es damals nicht, obwohl das bestimmt keine
Entschuldigung ist… Ich übe nicht umsonst eine Tätigkeit aus, die mich in die
Lage versetzt, Menschen in ausweglosen Situationen zu helfen. Ich habe schon
mit jugendlichen Formwandlern zu tun gehabt und ihnen Kraft meiner Fähigkeiten
dabei geholfen, die Umwandlung beherrschen zu lernen… Ich würde dir in jedem
Fall meine Hilfe anbieten… Es geschieht hauptsächlich deinetwegen, Chadh, aber
ich kann nicht zulassen, dass anderen etwas geschieht, einfach weil ich von dir
weiß. Dann würde ich für die nächsten Toten die volle Verantwortung tragen… Ich
komme dir sehr entgegen, wenn ich dir mein Blut und Plasma anbiete, damit das
nicht mehr passiert. Wenn du dich aber von mir abwenden solltest, dann bleibt
mir keine
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