Eine Sacerda auf Abwegen
Tränen. Ein Tier
gefangen in einem Käfig. Nach Freiheit strebend. Ohne Hoffnung. “
In seine eisblauen Augen trat wieder dieser aggressive Glanz und sein Gesicht verhärtete
sich zu jener Maske, die jegliches Gefühl in seinem Inneren, ob nun positiv
oder nicht, vor der Außenwelt verbarg.
Juno war noch
niemals in ihrem Leben auf eine solche Missachtung ihrer Person getroffen. Es
war eigentlich genau das, was sie sich seit Jahren wünschte, aber etwas an dem
Jungen ließ sie immer wieder unter halbgesenkten Lidern zu ihm rüber sehen.
Es lag nicht an seinem auffällig guten Aussehen vielmehr an der abweisenden
Haltung und der unterschwelligen Aggressivität, die er ausstrahlte. Er
erinnerte sie an sich selbst. Seine geflüsterten Worte ließen sie den Atem
anhalten, weil er genau das formulierte, was sie schon so lange fühlte. Beinahe
hätte sie sie als Einbildung abgetan, weil sie es nicht für möglich hielt, dass
ein Mann so empfinden konnte. Vielleicht war es auch nur ein Privileg der
Jugend, das sich mit den Jahren verlor.
Kinder bedeuteten doch Hoffnung…?
Juno nahm einen gequälten Atemzug, der ihre Lunge schmerzen ließ, als wäre sie
mit Glasscherben angefüllt. Ihre Augen brannten unvermittelt und für sie völlig
überraschend. Sie durfte einfach nicht zulassen, dass man ihr das friedliche
Leben nahm, das sie sich so mühevoll aufgebaut hatte. Sie wurde quer über den
Globus gesandt, was der Rastlosigkeit in ihr nur zugutekam. Sie lebte so weit
weg wie möglich von der Welt, die Sidonie nun für sich gewählt hatte. Ihre
Tochter .
Wie sollte sich auch nur ein Gefühl in ihrer Brust regen, wenn es zwischen
ihnen keinen sichtbaren Altersunterschied gab? Selbst nach so vielen Jahren als
Immaculate fühlte sie sich immer noch als Mensch. Sie konnte sich kaum daran
erinnern, das Kind ausgetragen und geboren zu haben. Sie hatte es einfach
geschehen lassen und nie mit jemandem darüber gesprochen. Sie hatte dem
Säugling nicht einmal ihr Blut gegeben, wie es der Brauch war, um die Bindung
zwischen Mutter und Kind zu verstärken, weil sie es einfach nicht gewusst
hatte.
Sie hatte
sehr vieles nicht gewusst.
Juno fuhr sich mit den Fingerspitzen über die Stirn, hinter der sie ein dumpfes
Pochen verspürte. Übermüdung und Überreizung. Sie war praktisch im Castle
gefangen und hatte sowohl den Vollmond und nun auch noch Samhain dort
verbringen müssen. Normalerweise ging sie der Gesellschaft der Immaculate an
solchen Tagen aus dem Weg, wenn es sich irgendwie einrichten ließ. Und nun
hatte sie einen weiteren Grund dazu.
Juno sah kurz zur Bühne, wo die Musiker sich für eine kleine Pause zurückzogen
und einem Pianisten Platz machten. In der ersten Reihe wurde einer der kleinen
Tische frei, um die halbmondförmige Sessel in Königsblau standen, die
wesentlich bequemer aussahen als die hohen Hocker an der Bar.
Sie gab dem Barkeeper einen kurzen Wink, welchem er gleich Folge leistete, ohne
allzu übereifrig zu erscheinen. Juno schob ihm ihre Centurion Card zu, damit
sie die Zahlungsmodalitäten aus dem Kopf hatte und gehen konnte, wann sie
wollte. Das kleine Kärtchen aus Platin hatte ihr schon sehr oft gute Dienste
geleistet.
Sie bestellte eine Flasche Armagnac für sich an den Tisch, was die
Voraussetzung dafür war, an einem der begehrten Plätze sitzen zu dürfen und
eine weitere für den jungen Mann mit dem eisigen Blick. Allerdings einen
jüngeren Jahrgang, da er den letzten edlen Tropfen viel zu schnell gekippt
hatte, um ihn wirklich genießen zu können. Seine Stimmung passte nicht dazu.
Ein zwanzig Jahre alter Cognac würde es für sie beide auch tun. Juno
unterschrieb die horrend hohe Rechnung mit einem nonchalanten Schwung aus dem
Handgelenk, ohne mit der Wimper zu zucken, dann zündete sie sich die Zigarette
an und nahm einen kleinen Zug, während sie das Etui in die Tasche zurücksteckte
und mit dem Drink in der anderen Hand von Hocker glitt.
Sie war beinahe schon an ihm vorbei gegangen, da hielt sie inne, um sich zu ihm
umzudrehen und seinem Hinterkopf einen überlegenden Blick zuzuwerfen. Juno ging
einen Schritt auf ihn zu, hielt aber genug Abstand, um nicht zu aufdringlich zu
erscheinen, obwohl sie diese Grenze mit ihren kleinen Präsenten wohl schon
längst überschritten hatte. Es stand ihm ja frei, die Geste auszuschlagen, das
konnte er mit dem Mann hinter der Bar ausmachen, wie er wollte.
Vielleicht waren es mütterliche Anwandlungen einem jungen Mann gegenüber, der
ihr Sohn sein könnte?
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