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Eine Sache der Ehre. Zwei wahre Geschichten.

Eine Sache der Ehre. Zwei wahre Geschichten.

Titel: Eine Sache der Ehre. Zwei wahre Geschichten. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Camilleri
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Beweis dient die Tatsache, daß die Worte von Avogadro di Casanova im Schlußbericht, den Romualdo Bonfadini im Namen seiner Kollegen schreibt, zu den am meisten zitierten gehören. Da die Zeugenaussage des Generalleutnants nur im Staatsarchiv nachzulesen ist, halten wir uns unterdessen an die von Bonfadini verwendeten Abschnitte, um ein erstes Echo von Casanovas Aussagen zu erhalten. Die wesentlichen Punkte sind folgende:
    - in Sizilien ersetzt die Presse Sachprobleme mit einem ganzen Fragebogen zur Person
    - jeder Priester ist mit einem Revolver bewaffnet unterwegs - man geht bewaffnet zu Bällen, in Spielsalons, ins Theater, zum Unterricht
    - allen den Waffenschein entziehen, würde nur die Entwaffnung der ehrlichen Bürger zur Folge haben - man darf nicht ungerecht sein und die Mitschuld der Komplizen als bloße Feigheit begreifen. Wenn den Briganten Nahrungsmittel zu verweigern bedeutet, daß einem der Hof angezündet wird, wenn der Verrat eines Verstecks einen Dolchstoß zur Folge haben kann, dann grenzt Mut schon an Heldentum, und das darf von der Mehrzahl der Leute einfach nicht erwartet werden
    - die Bürger haben das Recht, von den öffentlichen Sicherheitskräften beschützt zu werden, nicht die Pflicht, dieselben anzuleiten oder sich an ihrer Stelle der Gefahr auszusetzen
    - in Sizilien ist allein schon die Vorstellung unmöglich, daß es seriösere Garantien für eine neutrale Anwendung des Gesetzes über die Verwarnungen geben könnte

    Das sind die vielen Dinge, die Avogadro bedenkt und die von der Kommission soweit geteilt werden, daß sie sie in ihren Schlußbericht aufnimmt. Mich trifft die scharfsinnige Beobachtung der Inselgepflogenheit, Sachfragen in Fragen zur Person zu verwandeln. Der Kommissionsbericht gibt der Presse die Schuld dafür, doch Casanova sprach in dem spezifischen Fall nicht von der Presse, sondern lediglich von einer sizilianischen Sitte. Aus dem ganzen Verhör, dessen Protokoll im Staatsarchiv lagert, gehen weitere wertvolle Meinungen und Intuitionen Avogadros hervor, die keinen Platz im Schlußbericht der Kommission gefunden haben.
    Der Generalleutnant, der Bacon passend zitiert und nicht frei ist von einer gewissen hausbackenen Eitelkeit (»vor Zeiten waren auch wir reich«), Französisch und Englisch spricht und aufgrund seiner gründlichen Lektüre der Zeitungen von jenseits des Ärmelkanals über die Angelegenheiten in England bestens unterrichtet ist, bringt Ansichten zum Ausdruck, die sich stark von den gängigen Meinungen unterscheiden.
     Vor allem aber behauptet er, daß die Mafia auf der Insel nicht nur eine gesellschaftliche, sondern auch eine Art politischer Revolution vorantreibt, die ohne weiteres als de facto kommunistisch bezeichnet werden kann (den Begriff »Kommunismus« gebraucht Casanova häufig, jedoch ganz sachlich, ohne innere Anteilnahme). Indem die Mafia die Landbesitzer daran hindert, ihre Besitztümer zu betreten, und einige wagen seit Jahrzehnten nicht mehr, sich auf ihrem Land blicken zu lassen, führt sie eine regelrechte Enteignung durch. Die Mafia kommt in den Genuß der Erträge der enteigneten Ländereien und unterteilt dieselben nach einer hierarchischen Ordnung, die in absteigender Reihenfolge Mafiosi, Landaufseher, Feldhüter, Bauern, Tagelöhner und an letzter Stelle und nur pro forma die Besitzer selbst umfaßt. Dank dieses »kommunistischen« Systems kann sich die Mafia – immer noch laut Casanova – auf einen sehr breiten Konsens stützen.
     Der General ist im übrigen strikt gegen den Erlaß von Sondergesetzen: Sie führten nur dazu, blindlings in die Menge zu zielen; um einen einzigen Schuldigen zu verhaften, würden zehn Unschuldige verfolgt, was bei der Bevölkerung zu enormen seelischen Störungen mit nicht wiedergutzumachenden Folgen führte. Es genüge allein schon die gewissenhafte Anwendung der bestehenden Gesetze, wozu jedoch nicht nur guter Wille, sondern auch konkrete Möglichkeiten notwendig seien. Und in dieser Hinsicht nimmt er kein Blatt vor den Mund. Nur allzugern komme die Staatsanwaltschaft ihren Pflichten nicht nach, da sie dazu einfach nicht in der Lage sei, sei es wegen Personalmangels in den Gerichtskanzleien, sei es weil die auf der Insel eingesetzten Richter fast alle Sizilianer und leicht von der Mafia erpreßbar und zusammen mit ihren Familienangehörigen Drohungen und Repressionen ausgesetzt seien. Kein Richter, so der Generalleutnant, dürfe in die Verlegenheit gebracht werden, den Helden spielen zu

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