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Eine Sache der Ehre. Zwei wahre Geschichten.

Eine Sache der Ehre. Zwei wahre Geschichten.

Titel: Eine Sache der Ehre. Zwei wahre Geschichten. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Camilleri
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müssen und einen so hohen Preis zu bezahlen: Es genüge schon, nicht-sizilianisches Personal auf die Insel zu beordern, das keinerlei Verbindungen zu dem Gebiet hat, auf dem es arbeitet.
     Casanova gibt auch zu verstehen, daß die Einführung des Pflichtmilitärdienstes in Sizilien kein sehr kluger Einfall war. Dazu wäre eine langfristige und gründliche psychologische Vorbereitung bei den Leuten notwendig gewesen, die noch bis vor einem Jahr dieser Pflichten enthoben waren. Einige – so Casanova wieder – seien überzeugt, daß der obligatorische Militärdienst in Sizilien ein gutes Erziehungslager für die Jugend darstellen könnte. In Wirklichkeit verhalte es sich ganz und gar nicht so: Der Wehrdienst habe seinen Nutzen, wenn überhaupt, darin, diejenigen einen besseren Umgang mit Waffen zu lehren, die aufgrund ihrer gesellschaftlichen Stellung zwangsläufig zu Briganten, Gaunern und Dieben werden. Wenn sie das zu dem Zeitpunkt, da sie eingezogen werden, nicht ohnehin schon sind. Und dafür bringt er zahlreiche Beispiele.

    Avogadro di Casanova unterbreitet der Kommission außer den bereits angesprochenen Dingen auch seine Ansicht über die Vorgehensweise der »Zugehörigkeitsmafia«, wie er sie nennt, das heißt die ausführende Hand der kriminellen Organisation. Die Zugehörigkeitsmafia läßt eines schönen Tages die Sache A geschehen, die, wie es aussieht, auf den einen spezifischen Fall beschränkt ist. Einige Zeit später passiert die Sache B, die dieselben Eigenschaften hat wie A, scheinbar aber ohne jegliche Verbindung zu A ist. Danach folgen die Ereignisse C, D und so weiter bis zu einem Ereignis, das in Wirklichkeit das eigentliche Ziel, der Endknall (der General macht »Bumm!« vor der Kommission), die Krönung der gesamten komplexen Operation ist. Mit anderen Worten, die Abfolge der Ereignisse, will man ihren Sinn begreifen, kann nicht in chronologischer Reihenfolge gelesen werden, was ganz gezielt vom Weg abbringt. Die gesamte Handlung besteht aus zahlreichen Abschnitten, die, wenn sie in einer anderen als der zeitlichen Reihenfolge gelesen werden, eine Zusammensetzung und eine Querverbindung und am Ende die genaue Schußbahn aufzeigen. Der Generalleutnant braucht deshalb einen Entschlüssler, jemanden, der sich darauf versteht, Verbindungen herzustellen, Vergleiche zu ziehen, augenscheinlich unzusammenhängende Fakten nebeneinanderzustellen, denn daran, daß die Verbindung existiert, besteht kein Zweifel. Mit heutigem Wortschatz ausgedrückt, könnte man fragen: Warum richten wir keinen Antimafia-Pool ein? (Und das Wort hätte Casanova als anglophilem Menschen sicherlich sehr gut gefallen.) Gewiß, er drückte sich nicht auf diese Weise und nicht mit solcher Genauigkeit aus, doch die wesentlichen Linien eines möglichen und konkreten Projekts hatte er aufgezeigt.

    Der Generalleutnant war am 7. Januar 1874 in Palermo eingetroffen, am 12. November 1875 fand sein Verhör statt: Im Laufe von knapp zwei Jahren hatte er zahlreiche Dinge der verwickelten Inselrealität bestens begriffen. Er habe viel gelesen, viel gesehen und sich viele Gedanken gemacht, erklärte er vor der Kommission.
     Unter den Dingen, die er gelesen hatte, befand sich auch eine Absprachebulle (oder Schlichtungsbulle, wie er sie manchmal nennt). Man habe sie ihm zugesandt, erklärte er, doch er sagt nicht, ob aufgrund seiner direkten Nachfrage und von wem. In der Absprachebulle schlägt sich das »dauernde Anstacheln des Klerus« nieder, das er in seinem Brief an die Kommission angedeutet hat.

    9.

    Der Generalleutnant spielt die Karte der Bulle nicht aus taktischen Gründen, sondern weil er in jenem Augenblick ehrlich besorgt ist. Er betont seine ablehnende Haltung gegenüber den Sondergesetzen, und in einem bestimmten Moment seiner Aussage gerät er leicht in Verwirrung (Achtung: Für gewöhnlich ist er ein ausgezeichneter Redner!). Die Frage, die ihn bedrängt und die er nicht in Worte fassen kann, ist folgende: Bis an welchen Punkt kann ein Mensch, der ein Verbrechen begangen hat, aber dank einer Sondergenehmigung der Kirche ein reines Gewissen und seinen Seelenfrieden hat, sich als schuldig bezeichnen und so auch fühlen? Der Vorsitzende der Kommission, der noch nichts von der Bulle gehört hat, begreift Casanovas nervöse Erregung nicht und versucht es auf einem ungefährlicheren Terrain. Aufgrund ihrer pirandellianischen Struktur ist die Antwort des Generals in meinen Augen äußerst dramatisch.

    VERGA: Sie wollen also

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