Eine Schwester zum Glück
eine große, alte Villa mit Stuckleisten und Fenstern, die vom Boden bis zur Decke reichten. Die Treppe hatte ein Geländer aus geschnitzter Eiche. Zum Nebenraum ging es durch einen Torbogen mit gewölbten Leisten. Und überall gab es historische Fotografien – auf jedem Tisch und an jeder Wand. Schwarz-Weiß-Abbildungen von Gebäuden, Menschen und Augenblicken aus vergangenen Zeiten: ein Straßenbahnwagen, Zwillinge vor der Statue von Sam Houston, eine Pferdekutsche, die vor dem ursprünglichen Gerichtsgebäude parkte, und einer der ersten Löschtrupps der Stadt.
Ich stand auf, um mir die Bilder näher anzusehen. Ich liebte die Atmosphäre in dem Haus – und wie massiv und imposant es gebaut war. Mir gefiel die Vorstellung, dass Leute jeden Tag in diesem wunderschönen Gebäude zur Arbeit gingen, und als ich mir vorzustellen versuchte, wie ich ebendies tat, stieg Sehnsucht in mir auf. Ich wollte hierher. Zu dem Vorstellungsgespräch war ich widerwillig gekommen, hauptsächlich, um Mackie zu besänftigen. Doch da ich nun hier war, wirkte es wie der ideale Ort für mich. Ich war dankbar, dass ich es geschafft hatte herzufinden, und hoffte sehr, dass es mir trotz des schrecklichen Anfangs gelingen könnte, Mackies Kunden irgendwie zu überzeugen, dass ich hierhergehörte. Ich konnte mich nicht an das letzte Mal erinnern, als ich mir einer Sache so sicher gewesen war. Es war Liebe auf den ersten Blick.
Und dann tauchte Mackies Kunde auf: Howard Hodge man, Personalchef. Er blieb an der Treppe oben stehen und sagte: »Sie sind zu spät.«
»Es tut mir leid!«, rief ich hoch. »Ich habe mich verfahren.«
Howard Hodgeman ließ sich nicht aus dem Konzept bringen. »Und ich habe drei andere Kandidaten, die mir besser gefallen. Einer, mit dessen Vater ich in der Highschool Leichtathletik betrieben habe.«
»Ich bin auf dem Freeway gelandet!«, sagte ich. »Bei einer Baustelle!«
Er war noch immer nicht die Treppe heruntergekommen. Er stand bloß oben und sah herunter. Schließlich sagte er: »Na gut.« Er drehte sich um und verschwand.
Ich sah zu der Empfangsdame hinüber. »Soll ich hochgehen?«, flüsterte ich.
Mit einem Nicken winkte sie mich in Richtung der Treppe. Auch sie flüsterte. »Gehen Sie! Gehen Sie!«
Howard Hodgemans Büro sah aus wie eine Bibliothek – Bücherregale bedeckten jede Wand bis zur Decke hinauf, eine ganze Sammlung allein über Architektur und Design war in jegliche Richtungen gestapelt: vertikal, horizontal, diagonal. Als ich das Zimmer betrat, fühlte es sich an, als würde ich in eine andere Zeit gelangen. Ich sah einen Ledersessel, einen gewaltigen Walnussschreibtisch, einen dunkelroten Orientteppich und Topfpalmen an den Fenstern. Hätte Howard Hodgeman nicht auf seinem Laptop nach E-Mails gesehen, hätte ich fast damit gerechnet, dass er ein Monokel und eine Pfeife hervorzöge.
»Nehmen Sie Platz«, sagte er, ohne mich eines Blickes zu würdigen.
Doch auf den Sesseln stapelten sich Büchertürme.
»Möchten Sie, dass ich die Bücher wegräume?«, fragte ich. »Oder mich daraufsetze?«
Er hob den Blick und sah, was ich meinte. »Lieber Himmel, ich will doch nicht, dass Sie auf meinen Büchern sitzen!« Er trug sie für mich weg, in einem großen Stapel, und platzierte sie dann derart wacklig auf dem Heiz körper, dass ich nicht widerstehen konnte, mit mir selbst eine Wette einzugehen: Sollten sie im Laufe des Vorstellungsgespräches herunterfallen, würde ich die Stelle bekommen.
Als ich endlich saß, befand ich mich ungefähr dreißig Zentimeter tiefer als Howard. Er musste über die Kante seines Schreibtisches spähen, um mich zu sehen. Er war ein Walross von einem Mann, mit einem steifen Oxford-Hemd und brauner Cordhose. Es war offensichtlich, dass er Wert auf sein Erscheinungsbild legte und ein Gespür für Farben hatte.
Ich wartete, während er noch ein paar E-Mails verschickte, dann schien ihm wieder einzufallen, dass ich da war.
»Okay«, sagte er und schob einen Stapel Unterlagen beiseite. »Fangen wir an.« Mit einem Blick auf meinen Lebenslauf sagte er: »Ich hatte noch nie einen Bewerber zum Vorstellungsgespräch, der gleichzeitig so unter- und überqualifiziert ist.«
Es wirkte nicht wie eine Aufforderung zum Reden, also saß ich einfach reglos da.
Er blickte über den Rand seiner Brille. »Das Gehalt für diese Stelle ist so niedrig, dass es sich praktisch um eine ehrenamtliche Tätigkeit handelt.« Dann setzte er die Brille ab. »Das haben Sie gewusst, nicht
Weitere Kostenlose Bücher