Eine skandaloese Liebesfalle
solche Angst hervorrufen konnte.“
Plötzlich formten sich die losen Gedanken in Veres Kopf zu einer konkreten Theorie. Edmund Douglas’ Rücksichtslosigkeit, gekoppelt mit Raffiniertheit. Der
Tod von Stephen Delaney, so ähnlich wie der von Mrs Watts, aber zugleich entfernt von dem gegenwärtigen Fall. Der Niedergang von Douglas’ Diamantenmine und sein Geldbedarf, geboren aus seinem unersättlichen Appetit, sich auf anderen Investitionsgebieten erfolgreich zu zeigen, dabei aber zu versagen.
Er rieb seine Hände aneinander. „Wissen Sie, was wir tun sollten?“
„Nein ...“, sagte sie. Sie klang überrascht, aber auch hoffnungsvoll.
Fast hasste er es, sie zu enttäuschen. „Wir sollten keinesfalls hungern. Ich weiß nicht, wie es bei Ihnen ist, aber ich bin immer klüger und mutiger, wenn ich etwas gegessen habe. Sie bleiben hier. Ich gehe rasch in die Bäckerei. Darf ich Ihnen etwas mitbringen?“
Sie ließ die Schultern sinken. „Danke, nein. Ich habe keinen Hunger. Aber seien Sie vorsichtig.“
Er kehrte noch einmal in das Telegrafenamt zurück und sandte ein viertes Telegramm ab, dieses aber an Lord Yardley, von dem Lord Holbrook immer halb im Scherz als seinem Vorgesetzten sprach - der Delaneyfall stammte aus der Zeit vor Holbrook, und zudem war Holbrook immer mehr an dem Gegenwärtigen interessiert als an Vergangenem.
Er wollte von Lord Yardley nur eines erfahren: Hatten Delaneys wissenschaftliche Experimente irgendetwas mit der Herstellung künstlicher Diamanten zu tun gehabt?
Lord Vere schlief.
Er schien eine besondere Vorliebe dafür zu haben, in Zügen zu schlafen, da er auch schon auf dem Weg nach Shropshire ausgiebig geschlafen hatte. Aber es war Elissande ein Rätsel, wie jemand, dem so Schwerwiegendes angedroht worden war, derart unbeeindruckt davon sein konnte. Er hatte reagiert, als hätte sie ihm mitgeteilt, er werde eine Krawatte einbüßen statt entscheidende Körperteile.
Wenigstens war er nicht damit herausgeplatzt, dass sich Mrs Douglas im Savoy und nicht im Brown’s Hotel aufhielt. Vielleicht hatte er inzwischen auch einfach vergessen, in welchem Hotel sie die Nacht verbracht hatten, so wie er auch seine gestrige Unzufriedenheit darüber, sie geheiratet zu haben, vergessen zu haben schien.
Sie rieb sich die Schläfe. Ihr Onkel, heimtückisch und gerissen wie immer, hatte das perfekte Opfer für seine Drohung gewählt. Elissande und Tante Rachel kannten die Gefahr, die von ihm ausging; sie waren bereit, alles zu tun, um sich zu retten.
Aber wie sollte sie Lord Vere beschützen, der die gefährliche Lage gar nicht erfasste, in der er sich befand. Doch beschützen musste sie ihn, zweifellos. Es hatte einzig an ihr gelegen, dass er in ihre Schwierigkeiten verwickelt worden war.
Er war mit einer Schachtel aus der Bäckerei zurückgekehrt, kurz bevor sie in den Zug gestiegen waren, und hatte ihr daraus etwas angeboten. Sie hatte mit heftigem Kopfschütteln abgelehnt. Aber jetzt setzte sie sich neben ihn und öffnete die Schachtel. Er hatte ihr zwei Rosinenbrötchen und ein kleines Wiener Törtchen übrig gelassen.
Ohne es wirklich vorgehabt zu haben, aß sie beide Rosinenbrötchen und die Hälfte des Wiener Törtchens auf. Vielleicht hatte er ja recht und sie würde sich weniger verängstigt fühlen, nachdem sie etwas im Magen hatte. Und vielleicht hatte er auch einen guten Grund, vor ihrem Onkel keine Angst zu haben: Nie zuvor in ihrem Leben hatte sie gesehen, dass jemand Edmund Douglas so in seine Schranken verwiesen hatte, wie ihr Ehemann es getan hatte.
Er war so stark. Sie wünschte sich so sehr, mehr wie er zu sein, unerschütterlich und unbesorgt.
Sie seufzte und legte ihm die Hand auf den Arm.
Er hatte nicht mit ihrer Berührung gerechnet. Und er hatte noch weniger damit gerechnet, dass es sich so anfühlen würde, wie es das tat: unendlich vertraut.
Nach einer Weile nahm sie ihren Hut ab und lehnte ihren Kopf gegen seinen Oberarm. Er öffnete die Augen, damit er nicht vergaß: Es war bloß Lady Vere, die allein aufgrund von arglistiger Täuschung und tätlichen Übergriffen seine Frau geworden war. Aber während er ihr schimmerndes Haar betrachtete und ihrem gleichmäßigen leisen Atem lauschte, schien nichts die Süße ihrer Beinaheumarmung mindern zu können.
Da war das, was er von ihr hielt. Und dann war da das, was er dennoch empfand. Und es gab sehr wenig in der Mitte.
Zu seiner Verwunderung war das Nächste, was er merkte, dass der Zug langsamer wurde,
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