Eine skandalöse Versuchung
Abwesenheit in Colchester House ärgern würde, fiele sein Blick - an einem solchen Ort allein gelassen - womöglich auf eine andere Lady; vielleicht würde ihn sogar eine Dame von Daphnes Schlag ein wenig ablenken …
Als der Diener hereinkam, blickte sie nachdenklich zu ihm auf und reichte ihm die Nachricht, die er überbringen sollte.
Nachdem sie dies erledigt hatte, wandte sie sich ernsthafteren Problemen zu. In Anbetracht ihrer überaus hartnäckigen Haltung hinsichtlich einer Heirat war es vermutlich naiv zu glauben, Trentham würde ihr auch weiterhin in Sachen Mountford zur Seite stehen; andererseits konnte sie sich nicht vorstellen, dass er so einfach das Interesse verlieren und seine Leute, die bislang das Haus beobachtet hatten, kurzerhand abkommandieren würde. Ganz gleich, was zwischen ihnen beiden auch vorfiele, Trentham würde nicht zulassen, dass sie Mountford gegenüber auf sich allein gestellt wäre.
Nach allem, was sie über seinen Charakter erfahren hatte, erschien ihr der Gedanke regelrecht lachhaft.
Solange das Rätsel um Mountford nicht gelöst war, würde ihre inoffizielle Partnerschaft fortbestehen. Es war daher nicht mehr als ihr gutes Recht, in dieser Angelegenheit auf einen schnellen Fortschritt zu drängen. Permanent Trenthams Fallen auszuweichen,
während sie Tag für Tag mit ihm zu tun hatte, würde gewiss nicht einfach werden; es hatte wenig Sinn, diese Gefahr auch noch unnötig in die Länge zu ziehen.
Die ersten Antworten auf ihre Anfragen würden frühestens in ein paar Tagen eintreffen. Was konnte sie bis dahin unternehmen?
Trenthams Vermutung, Mountford wäre hinter irgendetwas her, was mit Cedrics Arbeit zusammenhing, hatte ihr zu denken gegeben.
In Cedrics Werkstatt hatten sie neben seinen Briefen noch über zwanzig Kladden und Tagebücher gefunden. Sie hatte sie mit in den Salon genommen und in einer Ecke des Raumes aufgetürmt. Während ihr Blick nun darauf ruhte, trat ihr die feine, enge und verblasste Handschrift ihres verstorbenen Cousins wieder vor Augen.
Sie stand auf, ging die Treppe hinauf und warf einen Blick in Cedrics Schlafzimmer. Der Staub lag zentimeterdick auf allen Möbeln, und überall waren Spinnweben. Sie wies die Hausmädchen an, das Zimmer zu säubern - sie würde sich morgen damit befassen. Jetzt würde sie erst einmal in den Salon zurückkehren und sich mit Cedrics Aufzeichnungen beschäftigen.
Bis zum Abend hatte sie jedoch nichts Spannenderes entdeckt als eine Anleitung zur Zubereitung eines Mittels, mit dem man Flecken von Porzellan entfernen konnte; sie hielt es für äußerst unwahrscheinlich, dass Mountford und sein mysteriöser ausländischer Freund sich für so etwas interessierten. Sie schob die Bücher beiseite und ging nach oben, um sich fertig zu machen.
Die Masseys besaßen eine jahrhundertealte, weitläufige Villa direkt am Flussufer. Die Decken waren niedriger als inzwischen üblich; Balken und Wandvertäfelungen bestanden aus tiefdunklem Holz, doch zahlreiche Lampen, Leuchter und Kandelaber, die großzügig über die Räume verteilt waren, vertrieben alle Schatten. Die geräumigen, miteinander verbundenen Säle waren für einen weniger förmlichen Abend geradezu perfekt geeignet. An der dem Fluss zugewandten
Seite des Speisezimmers, das kurzerhand zum Tanzsaal umfunktioniert worden war, spielte ein kleines Orchester.
Nachdem sie ihre Gastgeberin in der Eingangshalle begrüßt hatte, betrat Leonora den Salon und redete sich ein, dass sie sich gewiss hervorragend amüsieren werde. Und dass die unausweichliche Langeweile angesichts der Sinnlosigkeit solcher Veranstaltungen heute ausnahmsweise einmal ausbleiben würde, denn dieses Mal hatte das Ganze ja durchaus einen Sinn.
Unglücklicherweise erschien ihr die Aussicht, sich mit anderen Herren zu vergnügen, während Trentham sie nicht einmal sehen konnte, nicht eben besonders verlockend. Aber sie war nun einmal hier, und zwar in ein geradezu aufreizendes Kleid aus blauer Seide gehüllt, das eine deutlich jüngere unverheiratete Lady niemals hätte tragen können. Da sie ohnehin keinen großen Wert auf Konversation legte, konnte sie ebenso gut tanzen.
Sie ließ Mildred und Gertie in Gesellschaft einiger guter Bekannter zurück und steuerte zielstrebig durch den Raum, obgleich sie hier und da kurz innehalten musste, um einige flüchtige Worte zu wechseln.
Als sie den Durchgang zum Speisesaal erreicht hatte, ging gerade ein Tanz zu Ende; sie überflog kurz die Menge der
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