Eine skandalöse Versuchung
Cedrics Tagebücher zu entziffern auf der Suche nach irgendwelchen Hinweisen auf eine geheime Formel oder auf seine Arbeit mit Carruther. Sie hatte herausgefunden, dass die Einträge keiner chronologischen Ordnung folgten; unabhängig vom jeweiligen Thema waren seine Notizen willkürlich verstreut - mal in dem einen Buch, mal in dem anderen -, nach einem scheinbar undurchschaubaren Prinzip miteinander verbunden.
Ihre Abende verbrachte sie auf gesellschaftlichen Veranstaltungen, auf Bällen oder sonstigen Festivitäten, unweigerlich an Tristans Seite. Sein eindeutiges und unerschütterliches Interesse war für alle Welt offen ersichtlich; die wenigen mutigen Damen, die einen Versuch wagten, ihn abzulenken, wurden kurz und knapp abgefertigt. Zu knapp, könnte man sagen. Es dauerte nicht lange, ehe man über den Hochzeitstermin spekulierte.
Als sie an diesem Abend durch Lady Courts Ballsaal spazierten, berichtete sie ihm von Cedrics Tagebüchern.
Er runzelte die Stirn. »Mountford kann nur hinter irgendetwas her sein, was mit Cedrics Arbeit in Zusammenhang steht. Es gibt in eurem Hause nichts anderes, was ein derartiges Interesse rechtfertigen würde.«
»Ein derartiges Interesse?« Sie sah ihn an. »Hast du etwas Neues herausgefunden?«
»Mountford, oder wie immer er wirklich heißt, ist noch immer in London, aber er hält sich nie lange an einem Ort auf; ich habe ihn bislang nicht zu fassen bekommen.«
Sie wollte nicht in Mountfords Haut stecken, wenn ihm dies endlich gelänge. »Gibt es irgendwelche Neuigkeiten aus Yorkshire?«
»Ja und nein. Anhand der Anwaltsakten haben wir Carruthers Haupterben ausfindig machen können, einen gewissen Jonathon Martinbury. Er war Anwaltsgehilfe in York. Er hat vor Kurzem seine Ausbildung beendet und hatte vor, nach London zu reisen; vermutlich, um seinen Abschluss zu feiern.« Er sah sie an, blickte ihr
in die Augen. »Anscheinend hat er deinen Brief, den ihm der Anwalt aus Harrogate weitergeleitet hat, erhalten und daraufhin seine geplante Reise vorgezogen. Zwei Tage später nahm er die Postkutsche nach London, doch hier in der Stadt habe ich ihn bislang nicht ausfindig machen können.«
Sie runzelte die Stirn. »Wie eigenartig. Man sollte doch annehmen, dass er sich umgehend bei mir melden würde, wenn er schon auf meinen Brief hin seine Reisepläne ändert.«
»Durchaus. Allerdings sollte man vorsichtig sein, was die Prioritäten junger Männer angeht. Schließlich wissen wir nicht, warum er ursprünglich nach London kommen wollte.«
Sie verzog das Gesicht. »Stimmt.«
Damit war das Thema an diesem Abend beendet. Seit ihrer Unterhaltung in seinem Arbeitszimmer und dem darauf folgenden Gespräch in ihrem Salon hatte Tristan darauf verzichtet, irgendwelche sinnlichen Vergnügungen zu arrangieren außer denjenigen, die man auf der Tanzfläche verwirklichen konnte. Doch selbst hier waren sie sich beide der Nähe des anderen aufs Äußerste bewusst, und zwar nicht nur in körperlicher Hinsicht; jede Berührung, jede flüchtige Liebkosung, jeder Blick nährte ihren Hunger.
Sie spürte, wie die Begierde an ihren Nerven zehrte, und sie musste Tristan nicht einmal in die oft verdunkelten Augen sehen, um zu wissen, dass sie ihm noch mehr zusetzte als ihr.
Aber sie hatte ihn um mehr Zeit gebeten, und er gab sie ihr.
Sie hatte ihn einmal um etwas gebeten und das Erbetene erhalten.
Während sie an diesem Abend die Treppe zu ihrem Zimmer hinaufstieg, musste sie sich diese Tatsache unumwunden eingestehen, sie akzeptieren.
Als sie schließlich im Bett lag, warm und wohlig eingehüllt, kam sie noch einmal auf das Thema zurück.
Sie konnte nicht bis in alle Ewigkeit warten. Sie konnte keinen weiteren Tag mehr warten. Ihr Zögern war nicht gerechtfertigt; weder ihm noch ihr gegenüber. Ihr grausames Spiel quälte sie beide.
Und beruhte zudem auf Gründen, die inzwischen all ihre Macht und Bedeutsamkeit eingebüßt hatten.
Vor ihrer Zimmertür hörte sie Henrietta leise knurren; dann vernahm Leonora das kratzende, klopfende Geräusch ihrer Pfoten, das immer leiser wurde, als der Hund die Treppe hinunterlief. Die Tatsache beunruhigte sie nicht weiter, sie nahm sie nur am Rande wahr; ihre Gedanken blieben unbeirrt beim Thema.
Tristans Antrag akzeptieren oder ihn für immer aufgeben.
Es gab eigentlich keine Wahl. Nicht für sie. Nicht mehr.
Sie musste das Risiko unweigerlich eingehen, die Gelegenheit ergreifen und einen Schritt nach vorn tun.
Ihr Entschluss verfestigte sich; sie
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