Eine skandalöse Versuchung
Grund, weshalb sie sich überhaupt jemals auf den Gedanken eingelassen hatte, Mark Whorton zu heiraten, war vom ersten Tag an die tiefe Überzeugung gewesen, dass sie ihm niemals wirklich gefühlsmäßig nahestehen würde. Sie hätte ihm nie das sein können, was seine Frau Heather für ihn war: eine abhängige Ehefrau, die ihre Abhängigkeit auch noch liebte. Eine solche Frau hatte Mark immer gebraucht. Und Leonora hätte ihm dieses Bedürfnis niemals erfüllen können; sie war schlicht und einfach nicht dazu fähig.
Sie dankte Gott dafür, dass Mark genug Verstand besessen hatte, um - wenn schon nicht die Wahrheit zu erkennen - die Unstimmigkeiten zwischen ihnen wahrzunehmen und dementsprechend zu handeln.
Zwischen ihr und Tristan gab es keine solchen Unstimmigkeiten. Dafür gab es da etwas anderes. Womöglich Liebe.
Sie musste sich mit dieser Tatsache auseinandersetzen; mit der Tatsache, dass sie in diesem Fall - nämlich für Tristan - durchaus eine passende Ehefrau darstellte. Und zwar in jeglicher Hinsicht, unfehlbar, unleugbar. Er hatte dies instinktiv gespürt. Er war es schließlich gewohnt, auf seine Instinkte zu hören und dementsprechend zu handeln.
Er erwartete nicht - und würde niemals erwarten -, dass sie sich von ihm abhängig machte oder sich in irgendeiner Weise veränderte. Er wollte sie so, wie sie war, und erwartete nicht von ihr, dass sie versuchte, seinetwegen irgendeinem irrigen Ideal zu entsprechen. Er spürte intuitiv, dass sie die Richtige für ihn war. Er lief nicht Gefahr, sie auf ein Podest zu stellen; und dennoch hatte er ihr in der Vergangenheit bereits bewiesen, dass er nicht nur in der Lage, sondern auch mehr als willens war, sie bedingungslos zu verehren.
Und zwar ihr wahres Ich, nicht irgendein Hirngespinst, das ihr äußerlich ähnelte.
Dieser Gedanke - diese Tatsache - war so schmerzlich verlockend, dass sie einfach nicht davon ablassen konnte. Aber sie hinzunehmen, würde bedeuten, zugleich die emotionale Nähe zu akzeptieren, die - bereits jetzt - zwischen ihr und Tristan bestand und die ein wichtiges Bindeglied ihrer Beziehung darstellte.
Sie musste sich selbst bewusst werden, warum sie diese Nähe bei niemand anderem je zugelassen hatte.
Es fiel ihr nicht leicht, sich ihre Vergangenheit derart deutlich vor Augen zu führen, alle Schleier beiseitezuschieben, alle Fassaden niederzureißen, mithilfe derer sie ihren Schmerz verdeckt und entschuldigt hatte. Sie war nicht immer der Mensch gewesen, der sie jetzt war - stark, eigenverantwortlich, unabhängig von anderen. Früher war sie nicht so selbstständig, so selbstsicher gewesen, sie war keineswegs stets allein klargekommen, schon gar nicht in emotionaler Hinsicht, nicht mit allem. Wie jedes andere junge Mädchen hatte sie eine Schulter zum Anlehnen gebraucht und Arme, die sie auffingen, ihr Halt gaben.
Ihre Mutter hatte ihr diesen Halt gegeben, sie war immer für sie da gewesen, immer voller Verständnis. Doch dann waren an einem Sommertag ihre Eltern plötzlich gestorben.
Sie erinnerte sich an jene Kälte, an das eisige Gefühl des Verlusts, das sich über sie gebreitet, sie gefangengenommen hatte. Sie hatte nicht weinen können, hatte nicht gewusst, wie man trauert, wie man Abschied nimmt. Und es hatte niemanden gegeben, der ihr dabei half, der sie verstand.
Ihre Onkel und Tanten, ihre einzigen Familienangehörigen, waren deutlich älter gewesen als ihre Eltern, und keiner von ihnen besaß eigene Kinder. Sie hatten sie getätschelt, ihre Tapferkeit gelobt; doch keiner von ihnen verstand, keiner erahnte die ungeheure Qual, die sie in ihrem Innern verbarg.
Sie hatte sie immer tiefer in sich vergraben; denn genau das schien alle Welt von ihr zu erwarten. Doch von Zeit zu Zeit war
die Last zu groß geworden, und sie hatte verzweifelt versucht, jemanden zu finden, der sie verstehen, ihr helfen konnte.
Doch Humphrey hatte sie nie verstanden; das Personal in Kent begriff ebenso wenig, was mit ihr los war.
Niemand hatte ihr geholfen.
Sie hatte gelernt, ihr Bedürfnis zu verstecken. Im Laufe ihrer Mädchenjahre hatte sie nach und nach, Schritt für Schritt gelernt, nicht um Hilfe zu bitten, sich gefühlsmäßig nicht zu öffnen, anderen Menschen nie so weit zu vertrauen, um ihre Hilfe in Anspruch zu nehmen - und sich von ihnen abhängig zu machen; denn wenn sie niemanden um etwas bat, konnte ihr auch niemand etwas verweigern.
Oder sie abweisen.
Allmählich wurden ihr die Zusammenhänge klarer.
Tristan würde sie
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