Eine skandalöse Versuchung
sich überhaupt vorstellen konnte.
Leonora versuchte vergeblich, ihre Augen zu öffnen.
Ein scharfer Schmerz durchzuckte ihren Kopf. Die Schwärze verdichtete sich und riss sie mit sich fort.
Das Bewusstsein zurückzuerlangen, war alles andere als angenehm. Sie ließ sich einige Zeit in einem eigenartigen Zwischenzustand treiben, weder an- noch abwesend, während eine Vielzahl besorgter Stimmen sie umspülte; manche klangen scharf vor Wut, andere vor Angst.
Henrietta war auch da, direkt an ihrer Seite. Die Hündin jaulte und leckte an ihren Fingern. Ihre Augenlider fühlten sich an wie aus Blei; ihre Wimpern zuckten leicht. Mühsam hob sie eine Hand und stellte fest, dass sie einen breiten Verband um den Kopf hatte.
Die Gespräche rissen unvermittelt ab.
»Sie ist wach!«
Die Stimme gehörte Harriet. Die Zofe eilte an ihre Seite und ergriff ihre Hand, um sie zu tätscheln. »Keine Sorge. Der Doktor hat schon nach Ihnen gesehen und uns versichert, dass Sie im Nu wieder wie neu sein werden.«
Leonora ließ ihre Hand schlaff in Harriets Griff ruhen und gab sich Mühe, das Gesagte zu verarbeiten.
»Geht es dir gut, Schwesterherz?«
Jeremys Stimme klang seltsam erschüttert; er schien irgendwo ganz in ihrer Nähe zu stehen. Sie lag der Länge nach ausgestreckt, die Beine etwas höher als der Kopf, auf einer Chaiselongue. Sie musste sich im Salon befinden.
Eine schwere Hand tätschelte unbeholfen ihr Knie. »Ruh dich nur aus, Liebes«, kam Humphreys wohlgemeinter Rat. »Gott weiß, worauf diese Welt zusteuert, aber …« Seine Stimme wurde zittrig und riss ab.
Im nächsten Augenblick hörte sie einen bissigen Kommentar. »Es würde ihr gewiss besser bekommen, wenn Sie sie nicht alle so bedrängten.«
Tristan.
Sie öffnete die Augen und blickte ihn geradewegs an, da er direkt am Fuß des Ruhebettes stand.
Sein Gesicht wirkte starrer, als sie es je zuvor gesehen hatte; wer es zu deuten wusste, erkannte die beißende Drohung, die in seinen aristokratischen Zügen lag.
Sein funkelnder Blick allein war Warnung genug für jeden.
Sie blinzelte, ohne den Blick von ihm abzuwenden. »Was ist passiert?«
»Du hast einen Schlag auf den Kopf bekommen.«
»Das hatte ich mir schon fast gedacht.« Sie wandte ihren Blick zu Henrietta; die Hündin drängte sich näher an sie heran. »Ich ging nach unten, um nach Henrietta zu sehen. Ich hatte gehört, wie sie die Treppe hinunterlief und dann nicht wieder zurückkam. Das tut sie sonst immer.«
»Und deswegen bist du ihr gefolgt.«
Sie blickte wieder zu Tristan. »Ich hatte Angst, es wäre ihr vielleicht etwas zugestoßen. Und so war es ja auch.« Sie sah wieder Henrietta an und runzelte die Stirn. »Sie lag bei der Hintertür, aber sie bewegte sich nicht …«
»Sie wurde betäubt. Portwein mit Laudanum, den man unter der Tür hindurchgeschüttet hat.«
Sie streckte ihre Hand nach Henrietta aus, legte die Handfläche zärtlich an ihren struppigen Kopf und sah in ihre glänzenden braunen Augen.
Tristan bewegte sich. »Sie ist wieder ganz die Alte. Du hattest Glück. Wer auch immer das hier getan hat, hat ihr zu wenig verabreicht, um sie in mehr als einen sanften Schlummer zu versetzen.«
Sie atmete ein und zuckte zusammen, als ihr ein neuerlicher Schmerz durch den Kopf schoss. Ihr Blick kehrte zu Tristan zurück. »Es war Mountford. Ich habe ihm am Fuß der Treppe direkt gegenübergestanden.«
Einen Augenblick lang dachte sie, Tristan werde tatsächlich laut knurren; der Ausdruck von Gewalttätigkeit, der mit einem Mal seine Züge erfasste, war regelrecht beängstigend. Zumal sich ein Teil seiner Aggressivität ohne jeden Zweifel auf sie bezog.
Ihre Bemerkung hatte die anderen schockiert; alle Blicke waren nunmehr auf sie gerichtet, nicht auf Tristan.
»Welcher Mountford?«, fragte Jeremy. Sein Blick wanderte von Leonora zu Tristan. »Worum geht es hier eigentlich?«
Leonora seufzte. »Es geht um diesen Einbrecher. Es ist derselbe Mann, den ich bei uns im Garten gesehen habe.«
Angesichts dieser Enthüllung blieb sowohl Jeremy wie auch
Humphrey der Mund offen stehen. Sie waren entsetzt - und zwar umso mehr, da sie nun nicht länger die Augen verschließen und so tun konnten, als würde Leonora sich das alles nur einbilden. Es war keineswegs ihre Einbildungskraft, die Henrietta betäubt und ihr selbst eins über den Schädel gegeben hatte. Plötzlich gezwungen, sich mit der Realität auseinanderzusetzen, verfielen sie in allerlei Beteuerungen und
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