Eine skandalöse Versuchung
versuchten Einbrüche verantwortlich noch für die weitaus beunruhigenderen Bestrebungen, sie zu Tode zu ängstigen.
Was sie jedoch mit einer gänzlich neuen Frage konfrontierte: Wenn sie es nicht waren, wer dann?
Sie vernahm das Klicken der Türklinke; Castor trat ein.
»Der Earl of Trentham wünscht Sie zu sprechen, Miss.«
Tausend Gedanken schossen ihr durch den Kopf; gänzlich unbekannte Gefühle versetzten ihren Magen in Aufruhr. Innerlich stutzend unterdrückte sie beides und erhob sich; Henrietta tat es ihr nach und schüttelte ihr Fell. »Vielen Dank, Castor. Sind mein Onkel und mein Bruder in der Bibliothek?«
»Das sind sie, Miss.« Castor hielt ihr die Tür auf und folgte ihr. »Ich habe den Gentleman ins Frühstückszimmer geführt.«
Mit hocherhobenem Kopf durchquerte sie den Hauptflur und blieb dann abrupt stehen. Sie betrachtete die geschlossene Tür des Frühstückszimmers.
Und spürte, wie sich irgendetwas in ihr verkrampfte.
Sie zögerte. In ihrem Alter hatte sie keinerlei Grund sich zu zieren, nur weil sie sich für einige Minuten mit einem Gentleman allein im Frühstückszimmer aufhalten würde. Sie konnte unbesorgt eintreten, Trentham begrüßen und herausfinden, warum er sie zu sprechen wünschte - und das alles unter vier Augen; wenn sie sich auch kaum vorstellen konnte, was er ihr zu sagen haben könnte, was dringend unter vier Augen bleiben müsste.
Doch eine innere Stimme gemahnte sie zur Vorsicht. Die Haut oberhalb ihrer Ellbogen fing an zu prickeln.
»Ich werde Sir Humphrey und Mr Jeremy von seiner Gegenwart in Kenntnis setzen.« Sie sah Castor an. »Geben Sie mir ein
paar Minuten Zeit, und geleiten Sie Lord Trentham dann in die Bibliothek.«
»Sehr wohl, Miss.« Castor verneigte sich.
Manche Löwen forderte man besser nicht unnötig heraus; und sie hegte den starken Verdacht, dass Trentham dazugehörte. Mit rauschenden Röcken begab sie sich in die sichere Zuflucht der Bibliothek. Henrietta trottete ihr hinterher.
2
Die geräumige Bibliothek erstreckte sich entlang einer ganzen Hausseite und besaß Fenster, die sowohl den vorderen wie auch den hinteren Garten überblickten. Wenn ihr Bruder und ihr Onkel irgendetwas von ihrer Umgebung wahrgenommen hätten, wäre ihnen der groß gewachsene Besucher auf seinem Weg zum Haus sicherlich ins Auge gefallen.
Leonora ging davon aus, dass dies nicht der Fall war.
Der Anblick, der sich ihr bot, als sie die Tür öffnete, eintrat und sie dann leise hinter sich schloss, bestätigte ihre Vermutung.
Ihr Onkel, Sir Humphrey Carling, saß in einem Sessel am Kamin; er hatte einen schweren Folianten auf dem Schoß, und ein besonders starkes Vergrößerungsglas verzerrte eines seiner blauen Augen, während er die ausgeblichenen Hieroglyphen vor ihm zu entziffern versuchte. Er war einst ein stattlicher Mann gewesen, doch das Alter hatte seine Schultern gebeugt, seine vormals dichte Löwenmähne ausgedünnt und ihn seiner körperlichen Kraft beraubt. Seinen geistigen Kräften hatten die Jahre jedoch bislang nichts anhaben können. In Fachkreisen galt er nach wie vor als einer der beiden führenden Wissenschaftler auf dem Gebiet alter und kaum erforschter Sprachen und deren Übersetzungen.
Sein weißer Schopf schütteren Haars, das er trotz Leonoras wohlgemeintem Drängen etwas zu lang trug, war zu dem dicken Buch herabgebeugt; seine Gedanken waren offenbar in … Leonora
war sich einigermaßen sicher, dass der gegenwärtige Band von Mesopotamien handelte.
Ihr zwei Jahre jüngerer Bruder Jeremy - und zugleich der zweite führende Wissenschaftler auf dem Gebiet obskurer Sprachen - saß an einem nahe gelegenen Schreibtisch, dessen Oberfläche übersät war mit Büchern, einige davon geöffnet, andere geschlossen übereinandergestapelt. Jedes der Hausmädchen wusste ganz genau, dass sie diesen Schreibtisch auf eigene Gefahr berührte; trotz des vermeintlichen Chaos, das hier herrschte, bemerkte Jeremy dies immer sofort.
Er war gerade zwölf gewesen, als er nach dem Tod ihrer Eltern gemeinsam mit Leonora zu ihrem Onkel Humphrey gezogen war. Sie hatten zunächst in Kent gelebt. Obwohl Humphreys Frau damals bereits verstorben war, hatte die Familie beschlossen, dass es für die trauernden und noch heranwachsenden Kinder das Beste sei, wenn sie auf dem Lande groß wurden, zumal Humphrey - daran bestand kein Zweifel - eindeutig ihr liebster Verwandter war.
Es war nicht weiter erstaunlich, dass Jeremy, der schon immer eine Vorliebe für Bücher
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