Eine Socke voller Liebe
ein paar Monaten wieder rückfällig. Er
besuchte den Therapeuten nicht mehr und auch nicht die Gruppenabende der Anonymen.
Sie hatte schon lange alle alkoholischen Getränke entsorgt.
Es gab weder Wein noch Bier in ihrem Haushalt. Aber trotzdem fand sie immer
wieder leere Wein- oder Wodkaflaschen, wenn Markus am Sonntagabend wieder nach
Eisenach unterwegs war. Er hatte sie im Schreibtisch, unter dem Sofa oder in
seiner Werkzeugkiste versteckt.
Am Wochenende „gönnte“ er sich in der Regel nur so viel
Alkohol, dass er Entzugserscheinungen wie Zittern oder Schweißausbrüche
einigermaßen im Griff hatte.
Während der Arbeitszeit schien es ähnlich zu laufen, so dass
er weiter seine Mitarbeiter und Projekte leiten konnte.
Heute wusste Sabine, dass es nur dem großzügigen Verhalten
seines Chefs zu verdanken gewesen war, dass Markus noch so lange seinen Job
behalten hatte. Er war schon mehr als zwanzig Jahre in der Firma tätig gewesen.
Doch dann kam das unvermeidliche Ende seiner beruflichen
Karriere: Fast genau auf den Tag zwei Jahre nach der ersten Kündigungsandrohung
blieb Markus zuhause und fuhr nicht am Sonntagabend wie gewohnt nach Eisenach
zurück.
Man hatte ihn fristlos entlassen. Er war arbeitslos.
Sabine war dankbar für jeden Tag, an dem Markus keinen Rausch
hatte und irgendeiner Tätigkeit nachgehen konnte.
Aber das finanzielle Desaster war nicht aufzuhalten. Der
Schuldenberg drückte von Monat zu Monat schwerer.
Es war so beschämend, als der Anruf der Bank kam…
Vor ihren Kollegen und Freunden wäre sie am liebsten im
Erdboden versunken. Es tat weh, als sie vor zwei Jahren ihr Eigenheim verkaufen
mussten. Zum Glück waren die Kinder damals schon ausgezogen, aber sie verloren
das Zuhause, in dem sie aufgewachsen waren.
Markus geliebten Oldtimer holte sich die Bank.
Ja, damals hatte sie oft daran gedacht, sich von ihrem Mann
zu trennen. Aber sie hatte es nicht geschafft. Sie liebte ihn, und er hatte
wieder Kontakt mit einem Therapeuten aufgenommen. Sie glaubte seinen
Versprechungen und schöpfte erneut Hoffnung.
Gemeinsam waren sie nach Nackenheim gezogen, in den Nachbarort,
in dem sie nicht so bekannt waren. Die Dreizimmerwohnung sollte einen Neuanfang
symbolisieren.
Doch dann kam alles ganz anders….
Sabine setzte sich aufrecht hin und sah zu ihrer Freundin, die
gerade aufgestanden war.
„Ich würde mir jetzt gerne die Stadt ansehen“, sagte Andrea.
„Das ist eine gute Idee“, freute sich Sabine. Sie hatte
plötzlich das erleichternde Gefühl, ein wichtiges Kapitel in ihrem Leben
aufgearbeitet zu haben und loslassen zu können.
Als sie eine halbe Stunde später mit Andrea auf einem
Seitenaltar in der Kathedrale das dort gehaltene Paar weißer Hühner in einem
Käfig sah, sagte sie zu ihrer Freundin: „So habe ich mich manchmal in meiner
Ehe gefühlt. Wie in einem Käfig gefangen gehalten.“
„Dann wird es Zeit, dass du dir ein Schlupfloch suchst“,
erwiderte Andrea ungerührt.
„Ich bin dabei.“
Die Hühner werden übrigens aufgrund einer Legende, die sich
im 16. Jahrhundert zugetragen haben soll, in der Kirche gehalten und alle drei
Wochen ausgetauscht.
13.
Erwartungen
Um 6.00 Uhr ging das Licht an und aus einem Lautsprecher
dröhnte ein kurzer Choral.
Andrea sprang gleich aus dem Bett, das heißt, sie wollte,
aber der Platz reichte nicht. Schwungvoll landete sie mit den Füßen im
Nebenbett und plumpste gleich wieder auf ihre Matratze zurück. Sie brach in ein
lautes Gelächter aus, das auch die letzten Schläfer aufweckte.
Die hübsche Bettnachbarin nahm es mit Humor und forderte
lachend einen Kaffee als Entschädigung. Sie kannte ein Café, das zu dieser
frühen Uhrzeit bereits Frühstück servierte. Corinna war eine attraktive junge
Dame, die die Blicke auf sich zog. Andrea meinte später, sie würde bestimmt
auch auf einem Laufsteg eine gute Figur machen. Aber das dementierte sie
lachend.
Mit mehreren Tassen Milchkaffee und Croissants im Bauch und
bereichert durch die nette Pilgerbekanntschaft verließen die Frauen gut gelaunt
die Stadt.
In der angenehmen Kühle des frühen Tages wanderten sie über
breite schotterige Feldwege durch die leicht hügelige Getreidelandschaft
bergauf nach Granon. Als sie zwei Stunden später den Ort erreichten, fielen
ihre Blicke auf ein großes Hinweisschild: A Santiago 576km!
Sabine rechnete: „Wenn das stimmt, dann sind wir inzwischen
zweihundertvierundzwanzig Kilometer gelaufen. Da müssen wir uns aber noch ganz
schön
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