Eine Socke voller Liebe
du deine Ruhe haben willst, zum Beispiel? Weil du sonst
ein schlechtes Gewissen hättest?“
„Vielleicht.“
„Wichtig ist doch, was ich von mir selbst erwarte. Das muss
ich erst einmal klären, und das hat etwas mit einem gesunden Selbstwertgefühl
zu tun. Niemand kann für einen anderen Menschen die Verantwortung voll und ganz
übernehmen und niemand darf das von einem anderen Menschen erwarten.“
„Da bin ich ganz deiner Meinung. Aber sobald die Liebe ins
Spiel kommt, gelten andere Gesetze.“
„Das stimmt nicht. Du drängst dich jetzt selbst in eine
Opferrolle. Frag dich mal, was Nächstenliebe ist. Die hat nichts mit
Selbstaufopferung zu tun. In der Bibel steht: Liebe deinen Nächsten wie dich
selbst! Das heißt also, du musst dich zuerst selbst lieben und deine Schwächen
annehmen, musst dir selbst verzeihen können, bevor du einen anderen Menschen
wirklich lieben kannst. Das ist die vollkommene Liebe.“
Sabine war einen Moment perplex. Sie verstand die Erregung
ihrer Freundin nicht und fühlte sich angegriffen.
„Sag mal, spinnst du jetzt? Willst du behaupten, ich hätte Markus
nicht wirklich geliebt?“
„Doch, doch, Markus schon, aber irgendwann hast du nicht mehr
an dich selbst gedacht. Für dich war Markus der gut aussehende Held, der tolle
Typ, den du vergöttert hast, und um den dich alle beneidet haben. Der Mann, der
das große Geld nach Hause gebracht hat, damit du dir deine heile Welt aufbauen
konntest. Und deshalb hast du immer für ihn die Kartoffeln aus dem Feuer geholt
und hast dir die Finger verbrannt, anstatt ihm selbst die Chance zu geben, sich
die Finger zu verbrennen. Du hast alles getan, um ihm die Verantwortung
abzunehmen und nicht zugeben zu müssen, dass dein Held gar keiner war.“ Andrea
hatte immer schneller gesprochen und hielt fast erschrocken inne, als sie zu
ihrer Freundin hinüber sah, die ihr mit gesenktem Kopf zuhörte.
Für eine Minute herrschte eine betroffene Stille zwischen
ihnen.
Sabine hob den Kopf: „So deutlich hast du mir deine Meinung
schon lange nicht mehr gesagt, auch wenn ich es nicht fair finde, dass du den
Spieß so umgedreht hast, um nicht von dir selbst sprechen zu müssen. Aber das
ist eine andere Sache.“ Sabine hob abwehrend die Hände, als Andrea etwas
einwenden wollte, und redete langsam weiter: „Vielleicht ist ja sogar etwas
dran an deiner Version. Aber du hast nie in einer Ehe gelebt, deshalb finde ich
deine Meinung ein bisschen anmaßend. Ich werde trotzdem darüber nachdenken. Auf
jeden Fall hat Markus jetzt seine Chance und ich meine. Weißt du, soeben in der
Kirche hatte ich ein so wunderschönes Gefühl der Dankbarkeit in mir, und ich
habe darum gebetet, es bei mir behalten zu können.“
„Tut mir leid, wenn ich es dir zerstört habe.“
„Nein, das hast du nicht.“
„Mir ging es in der Kirche ähnlich. Bist du mir böse?“
„Nein, obwohl ich gerne wüsste, warum du plötzlich so schroff
geworden bist.“
Andrea antwortete nicht.
Stattdessen stand sie auf und nahm ihren Rucksack hoch. „Komm,
wir gehen weiter, damit wir noch zehn Kilometer laufen können, bevor es wieder
heiß wird.“
Der Camino führte sie durch die ersten Getreidefelder, die
zur Meseta gehörten, dem großen Getreideanbaugebiet Spaniens, das bis León
reichte. In Gedanken versunken und schweigend liefen die beiden Frauen lange
Zeit hintereinander her.
Abseits der Straße, umgeben von Wiesen und Feldern, stand ein
eingeschossiges Bauernhaus. Ein kleines Schild wies darauf hin, dass hier eine
private Herberge war.
Das ganze Anwesen war ein paradiesisches Plätzchen für müde
Pilger. Die spanische Familie, bestehend aus Vater, Mutter, Sohn und Tochter,
begrüßte die beiden Peregrinas herzlich und verwöhnte sie mit frischem Obst und
Getränken.
Die Schlafräume waren geräumig, die Matratzen n i c h t
durchgelegen, die Bäder neu und sauber, der Bauerngarten mit seinen Obstbäumen
und darunter befindlichen Liegestühlen eine Oase, die alten
Porzellanwaschbecken und Waschbretter ein nostalgischer Spaß zum Wäschewaschen,
die Wäscheleinen ausreichend, das gemeinsame Abendessen mit zartem Fleisch,
frischem Gemüse und Früchten aus dem eigenen Garten eine Köstlichkeit, und die
Gesellschaft einiger weniger sympathischer Peregrinos, unterhaltsam.
„Mein Gott, was geht’s uns gut!“, seufzte Andrea vor dem Einschlafen.
„Ja, und ich habe das Gefühl, endlich auf meinem Weg
angekommen zu sein“, murmelte Sabine leise.
Und mit diesem
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