Eine Socke voller Liebe
„Rentnergang“ hatte sich auf einem
Acker formiert, um zu beten und zu singen. Die „Looser“ mit ihrem frommen
Getue, die wussten doch gar nicht, was es hieß, tagtäglich den Camino zu
gehen!!
„Oh, ich könnte euch alle im Meer versenken“, knurrte sie
wütend vor sich hin.
Einige Minuten später begann Andrea „Das Wandern ist des Müllers
Lust“ zu singen.
„Kannst du bitte mit der albernen Singerei aufhören?!“,
forderte Sabine sie ärgerlich auf.
„Nein, kann ich nicht“, lachte Andrea ihr zu, „sing doch mit,
das hilft dir vielleicht.“
„Nein! Du Nervensäge! Im Moment habe ich daran absolut keine
Lust. Ich mache jetzt eine Pause und creme meinen Knöchel noch mal ein. Ich
habe keinen Bock auf deine gute Laune, du blöde Kuh!“ Den letzten Teil hatte
sie sehr leise gesprochen und humpelte jetzt über die trockene, dunkelrote Erde
eines brachliegenden Feldes auf einen Baum zu. Sie wollte sich einfach mal
gehen lassen, sie wollte ihr elendes Gefühl nicht verdrängen.
Zögernd folgte Andrea ihr. Sie holte zwei Äpfel aus ihrem
Rucksack und reichte einen der Freundin, die ihn wortlos annahm. Dann setzte sie
sich ebenfalls auf den schmalen Grasstreifen unter das schattige Blätterdach
des alten Baumes.
Sabine umarmte ihre Beine und ließ den Kopf auf die Knie
sinken.
„Ich fühle mich heute so beschissen wie noch nie und habe zum
ersten Mal keine Lust zu laufen. Ich schwanke die ganze Zeit zwischen Wut,
Frust und heulendem Elend. Und das Schlimmste ist, dass ich eigentlich gar
nicht so richtig weiß, warum“, jammerte sie.
„So ähnlich ging es mir gestern auch“, sagte Andrea und legte
ihren Arm um Sabines Schulter.
Sabine spürte die Berührung, und es war, als würde sich
dadurch ein Schleusentor auftun. Tränen über Tränen rannen über ihr Gesicht.
Es war ein befreiendes Weinen, das Anspannungen löste und den
Groll aus ihrer Seele spülte.
Andrea hielt ihre Freundin im Arm und betrachtete die
kleinen, weißen Federwolken am Himmel. Wie leicht und spielerisch sie schwebten
und sich dabei ständig veränderten. Schade, dass das Schweben für Menschen so
nicht möglich ist, dachte sie und beobachtete, wie der Wind die Wolken vor sich
her trieb. Ja, sie wurden vom Wind gezwungen, sich zu verändern. So fühlte sie
sich auch. Wie eine Wolke, die plötzlich vom Wind erfasst worden war und sich verändern
musste.
Etwas Ungeheuerliches war gestern mit ihr passiert. Etwas,
das eine Sehnsucht in ihr ausgelöst hatte, die sie nicht für möglich gehalten
hätte. Sie ließ sich nicht verdrängen und war immer da. Die Sehnsucht, ihre
Angst vor Liebe und Enttäuschung endlich zu besiegen, schlummerte tief in ihrem
Herzen.
Darum musste sie gestern allein sein. Sie wollte sich ehrlich
mit ihren widersprüchlichen Gefühlen auseinandersetzen und sich Klarheit
verschaffen, was ihr wirklich wichtig war.
Sie wollte ihre Sehnsucht annehmen und ihr einen Platz geben.
Sie hatte sich vorgenommen, ihr Misstrauen zu begraben und ihren Gefühlen zu
folgen.
Andrea streichelte leicht Sabines Schulter und reichte ihr
ein Taschentuch. Sabine schnäuzte laut ihre Nase und sah mit verheulten Augen
zu ihrer Freundin.
„Danke! Ich hab das Gefühl, jetzt kommt alles Verschüttete
bei mir hoch“, schluchzte sie.
„Alle Ängste und alle Sehnsüchte.“
„Aber ich kann sie nicht genau artikulieren“, Sabine wischte
sich mit dem Tuch über die Augen, „sie sind noch so verschwommen.“
Dann schnäuzte sie noch einmal ins Taschentuch und steckte es
in ihre Hosentasche, bevor sie in den Apfel biss.
„Wenn ich den Apfel gegessen und meinen Fuß verarztet habe,
laufen wir weiter“, beschloss sie mutig.
Nach fünf mühevollen Wanderstunden zogen die Freundinnen in
das einzige Zweibettzimmer mit eigenem Bad ein, das in einer modernen, neuen
Herberge untergebracht war.
Die Freude über so viel Luxus und der Stolz, bereits mehr als
die Hälfte ihres Pilgerweges zurückgelegt zu haben, halfen Sabine dabei, ihren
Frust los zu lassen.
Nach einem guten Essen feierte sie gemeinsam mit Andrea und
einigen anderen Peregrinos an diesem Abend ihr „Bergfest“. Sie genossen das
gute Essen und die ungezwungene, fröhliche Gesellschaft netter Leute. Das
dankbare Gefühl, frei und unterwegs zu sein, hatte sich wieder eingefunden.
21.
Gastfreundschaft
„Noch zwei Tage durch die Meseta! Dann beginnen die Vororte
von León“, freute sich Andrea, während sie im Wanderführer blätterte, „und wenn
wir die
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