Eine Socke voller Liebe
Verantwortung für sie
aufgetragen. Wenn ich aus der Schule kam und sie betrunken auf dem Sofa lag,
habe ich aufgeräumt und für meine kleine Schwester Essen gekocht. Ich habe ihre
Heulattacken ertragen und ihr mein Mitleid geschenkt, wenn sie über ihr
schlimmes Leben geklagt hat. Dabei hätte sie so ein schönes Leben haben
können“, Corinna hob leicht ihre Schultern an und ließ sie mit einer
resignierenden Gebärde wieder fallen, „aber sie hat es nicht gehabt. Sie hat
sich alles vermasselt. Ich habe ihr verziehen, natürlich. Ich habe die Tür
meiner Kindheit ganz fest hinter mir verschlossen, als mein Vater mich mit
sechzehn zu meiner Tante an den Niederrhein gebracht hat, damit ich mich mehr
auf die Schule konzentrieren und das Abitur machen konnte. Diese Tür hat sich
ein kleines Stückchen geöffnet, als ich meiner Mutter am Sterbebett zum ersten
Mal wieder begegnet bin. Aber da war nur noch Mitleid. Sonst nichts“, vertraute
sie Sabine leise an, „weißt du, das Leben geht weiter und die Zeit, die
verrinnt, ist das einzige, das die Wunden verheilen lässt. Aber die Narben
bleiben für immer.“
Die Pilgerfreundin sagte nichts. Eine Weile liefen sie so
schweigend nebeneinander her. Nur das gleichmäßige „klock, klock“ der
Besenstiele war zu hören.
„Wie geht es deinem Fuß?“, unterbrach Corinna einige Minuten
später das Schweigen.
„Es sticht ein bisschen, ist aber auszuhalten. Deine
Besenstiele sind mir eine gute Stütze.“
„Du kannst sie eigentlich behalten, denn bis León gibt es
keine Steigungen, und ich brauche sie nicht mehr.“
„Das ist lieb von dir, danke“, freute sich Sabine.
Nach neunzehn Kilometern wartete Andrea vor einer
Pilgerherberge auf Sabine und Corinna.
Gut gelaunt umarmte sie die beiden Ankömmlinge.
20.
Heulendes Elend
Die Tür zu dem Durchgangszimmer, in dem sie mit acht anderen
Pilgern die Nacht verbrachten, knarrte bei jeder Bewegung schrecklich laut. Sie
wurde von allen, die mal das stille Örtchen aufsuchen musste, geöffnet und fiel
mit einem lauten Knall wieder ins Schloss.
Die zwölf Pilger aus dem Nachbarraum litten entweder allesamt
unter Blasenschwäche oder hatten am Abend besonders viel getrunken. Auf jeden
Fall konnte Sabine am Fußende ihres Bettes ein nachtaktives Wanderleben
beobachten. Dieses ständige Hin und Her zum Klo und wieder zurück bescherte ihr
im wahrsten Sinne des Wortes eine „knallharte“ Nacht.
Am Morgen war sie übermüdet und stinksauer. Der schmerzende
Knöchel gab das seine dazu. Obwohl, wenn sie ehrlich war, tat der Fuß jetzt
kaum noch weh, nachdem Corinna ihr gestern Abend einen dicken Salbenverband
angelegt hatte.
Andrea hatte die knarrenden und knallenden Geräusche in der
Nacht überschlafen und Corinna war bereits sehr früh losgezogen.
In einem Café gab es frisch gebackene Croissants und einen
starken Kaffee. Aber auch das Frühstück konnte Sabine nicht aus ihrem Tief
reißen. Eigentlich wollte sie auch gar nicht da raus. Sie suhlte sich in ihrer
schlechten Laune.
„Mir ging es gestern ähnlich“, versuchte Andrea die Freundin
zu trösten, „das verläuft sich wieder, du wirst sehen. Möchtest du vielleicht
auch allein sein? Mir hat das gestern gut getan.“
„Nein! Aber du hattest ja auch keinen schmerzenden Knöchel“,
motzte Sabine.
Nachdem sie die Stadt verlassen hatten, marschierte Andrea
mit ihrem gewohnt flotten Schritt vorneweg. Sabine schlich langsam hinter ihr
her. Sie hatte heute einfach „keinen Bock“. Sie war genervt und wartete
förmlich bei jedem Schritt auf das leichte Stechen in ihrem Fuß, das ihr
immerhin einen guten Grund für ihr Selbstmitleid lieferte. Der holperige Weg
und die eintönige Landschaft gaben den Rest dazu.
Die alte Römerstraße zog sich zwölf Kilometer lang
schnurgerade und schattenlos durch die einsame Meseta.
Mit gesenktem Kopf humpelte sie besonders vorsichtig und
langsam über die dicken Schottersteine, um nicht noch einmal zu stolpern.
Andrea drehte sich ab und zu um und wartete oder rief:
„Geht’s mit dem Laufen?“
„Muss ja“, brummte Sabine leise, obwohl sie am liebsten vor
Selbstmitleid zerflossen wäre. Ja, sie hatte große Lust, sich an den Wegrand zu
setzen und loszuheulen.
Aber da versammelte sich gerade eine französische
Pilgergruppe. Nee, nee, das konnte ja wohl nicht sein! Die waren bestimmt mit
dem Bus bis an die Römerstraße gefahren und pilgerten jetzt zwölf Kilometer
durch die Meseta bis zum nächsten Ort. Die
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