Eine Spur von Lavendel (German Edition)
verschwendet, dass er völlig ungeschützt mit Adrienne geschlafen hatte. Nur der verdammte Betrug hatte für ihn im Vordergrund gestanden, nur das schlechte Gewissen Henri gegenüber hatte damals sein Denken beherrscht.
Die heftigen Gefühle überfluteten ihn aufs Neue, und er fühlte seine Beine nachgeben. Langsam ließ er sich neben dem Kinderbett auf die Knie nieder, ohne auch nur eine Sekunde lang den Blick vom Gesicht seines Sohnes zu wenden.
„Ich liebe dich, mein Sohn“, brachte er flüsternd hervor, dann gab er sich einer neuen Tränenflut hin und ließ seinen Kopf schwer auf die gesteppte Bettdecke sinken. Er weinte alles aus sich heraus. Angefangen bei der Trauer über die beiden Menschen, die er trotz allem so schmerzlich vermisste, bis hin zum Kummerüber die verlorenen Jahre mit seinen Kindern. Er weinte über die Schmerzen, die sie alle zusammen ertragen mussten. Dann wieder verfluchte er Adrienne und vor allem seinen Bruder aus tiefstem Herzen, bis die Tränen schließlich von allein versiegten. Hinterher erschrak er ein wenig über seinen Zusammenbruch und sah besorgt nach, ob er den Jungen etwa aufgeweckt hätte. Doch Richard schlief so tief und fest, wie es nur Kinder fertigbringen.
Tobias Kroning trat einen Schritt näher an Linda heran, nachdem Alexander nach oben verschwunden war. Sein ernster Blick heftete sich auf ihr verweintes und blasses Gesicht. Claudine Hellberg stand mit verschränkten Armen reglos am Fenster. Auch sie sah ihre Schwiegertochter an und schüttelte leicht ihren Kopf.
„Warum tust du ihm das an?“, fragte Tobias mit unverhohlener Betroffenheit und deutlichem Unverständnis in der Stimme. „Wie kannst du ihm gerade jetzt deine Liebe und deinen Beistand verweigern? Entschuldige bitte, Linda, aber ich verstehe dich einfach nicht.“
Ihr Blick hob sich. „Es ist … ich kann … nicht.“
„Du kannst nicht? Hast du auch nur die geringste Vorstellung davon, was dieser Mann, dein Mann, in der vergangenen Stunde ertragen musste? Denke mal darüber nach, Linda Hellberg!“
Er holte tief Luft, weil er bemerkte, dass der Anisschnaps inzwischen seine tückische, leicht verzögerte Wirkung zeigte. „Meine Güte, er hat geweint wie ein kleines Kind! Alexander Hellberg hat geweint, Linda! Doch wahrscheinlich hast du gar keine Vorstellung davon, was das bedeutet, für einen Mann wie … Verdammt und zugenäht, ich habe zu viel getrunken.“
Wieder schnappte er nach Luft und raufte sich mit beiden Händen die hellen Haare. „Komm zu dir, verflucht noch mal! Dein Mann braucht dich jetzt mehr denn je!“ Abrupt wandte er sich von der entsetzten Linda ab, die ihn mit offenem Mund anblickte, und sah Claudine an, deren Miene dagegen fast gelassen wirkte. „Kann ich mal nach Hamburg telefonieren?“
Sie nickte. „Natürlich“, antwortete sie mit heiserer Stimme.
Tobias pustete geräuschvoll die Luft durch seine fast geschlossenenLippen und verließ das Zimmer. Vorsichtig bewegte er sich bis zum Ende des langen Flurs, wo das einzige Telefon des Hauses auf einer antiken Kommode stand. Das kleine Schränkchen stand unter der Treppe, sodass man sich zumindest der Illusion hingeben konnte, einigermaßen ungestört zu telefonieren. Tobias warf einen schnellen Blick auf seine Armbanduhr. Mit etwas Glück war sie noch wach.
Er wusste, dass Monika selten vor Mitternacht ins Bett ging, wenn sie normalen Tagdienst hatte. Also wählte er entschlossen die Nummer von Linda und Alexander, denn dort hielt sie sich ja zurzeit auf.
Schon beim zweiten Klingeln hob sie ab, ohne sich zu melden. Offenbar hatte sie seinen Anruf schon erwartet. „Na, Kroning, bringt die Sehnsucht dich schon um?“
Tobias lächelte in den Hörer und konzentrierte sich darauf, deutlich zu artikulieren. „Du sagst es, meine Schöne. Vermisst du mich denn auch ein bisschen, du süße …“
„Sag mal, Kroning, hast du was getrunken?“
„Ich bin stockbesoffen, deshalb … deshalb rufe ich ja auch an“, sagte er und unterdrückte einen heftigen Schluckauf.
„Ist es so schlimm?“ Monika kannte ihn schon ganz gut. Tobias war mit Alkohol normalerweise eher zurückhaltend, denn er vertrug nicht besonders viel davon.
„Noch schlimmer, aber das … erfährst du noch früh genug, du kleine, neugierige, süße …“
„Kroning, du lallst grässlich! Was willst du?“
„Ich sag dir jetzt was, das haut dich glatt um, Kaminski.“ Er hörte selbst, dass er mit den S-Lauten so seine Schwierigkeiten hatte, konnte
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